VERTEIDIGUNG UND NUKLEARE ABRÜSTUNG

Teil 2

Dieser Tage veröffentlichte die EU-Kommission ihr „Weißbuch zur Verteidigung“. Parallel dazu beschäftigte sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament mit den Schritten zum Aufbau einer wirksamen europäischen Verteidigung. Das wäre noch vor 5 Jahren undenkbar gewesen. Das verdanken die Europäer Wladimir Putin und Donald Trump. Dem einen, weil er in die Ukraine einmarschierte und auch generell der EU droht, dem anderen, indem er ebenso die EU als Feind ansieht, der noch dazu - seiner Meinung nach - die USA als militärischen und insbesondere nuklearen Schutzschirm missbraucht und sich damit Ausgaben für eine angemessene Verteidigung erspart. Außerdem versucht Trump Putin als Freund zu gewinnen, um einen Keil zwischen Russland und China zu treiben und zusätzliche Geschäft anzubahnen. 

Europa in einer unordentlichen Welt

Diese Unordnung, die beide - und in gewissem Ausmaß auch China - über Europa gebracht haben, zwingt den alten Kontinent neue Wege zu gehen. Nicht neu ist die Grundlage der Europäischen Union: Friede auf dem Europäischen Kontinent zu schaffen und zu bewahren. Wie aber kann man - nachhaltigen - Frieden schaffen und erhalten, wenn der große Nachbar Russland auf Krieg und Eroberung aus ist und der bisherige Verbündete - zumindest so ist die aktuelle Lage - sich eher mit dem Eroberer verbündet als mit dem Opfer?

Dazu muss freilich gesagt werden, dass nicht alle Europäer diese Einschätzung teilen. Manche sehen in diesen Beurteilungen der russischen Ambitionen eine Panikmache. Sie erkennen in Putins Verhalten eine Verteidigung von - berechtigten - russischen Interessen und nicht einen Akt der Aggression. Und dabei „übersehen“ sie die vielen aggressiven Worte, die gegen den Westen und seine Kultur gerichtet sind und die Drohung mit der Atombombe. Diese Auffassungsdifferenzen erschweren sicherlich den Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion. Ein solcher Weg kann wahrscheinlich auch nur beschritten werden, wenn unter Verteidigung nicht nur die militärische Komponente verstanden wird. 

Es geht um die Verteidigung eines demokratischen Systems - mit all seinen Mängeln - das sich deutlich vom russischen und zunehmend ebenso oligarchischen US-amerikanischen System unterscheidet. Der deutsche Philosoph und Zeitanalytiker Jürgen Habermas, der die Ursachen des Ukraine Konflikt durchaus kritisch sieht, meinte jüngst: „Die Mitglieder der Europäischen Union müssen ihre militärischen Kräfte stärken und bündeln(!), weil sie sonst in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt politisch nicht mehr zählen.“ (Süddeutsche Zeitung 22./23.03.2025). Seiner Meinung nach geht es um „existenzielle Selbstbehauptung“ durch gebündelte Verteidigungsanstrengungen. Und der Schriftsteller und Philosoph Leander Scholz meinte Europa muss die Illusion aufgeben, „eine politische Macht ohne militärische Stärke sei die eigentliche Hüterin des zivilisatorischen Fortschritts.“(NZZ 20.03.2025)

Eine Zustimmung zu einer aktiveren Verteidigungspolitik kann überdies nur gelingen, wenn sie Teil einer Industriepolitik ist, die technologieorientiert ist und letztendlich hilft, die europäische Wirtschaft nach vorne zu bringen. Ob es sich um die Künstliche Intelligenz handelt oder - zum Teil damit zusammenhängend - um komplexe Informations- und Kommunikationssysteme, heute kommt keine Industrie ohne permanente Innovationsschübe aus. Und aus solchen, die in der Verteidigungsindustrie entwickelt werden, können neue Initiativen für die Modernisierung der europäischen Wirtschaft insgesamt entstehen. Verteidigungsindustrielle Investitionen und Innovationen können also auch für die wirtschaftliche Entwicklung von Vorteil sein. Voraussetzung ist allerdings die ausreichende Versorgung mit den notwendigen Rohstoffen inklusive seltenen Erden.

Entscheidend für die allgemeine Unterstützung zusätzlicher Ausgaben für die Verteidigung ist, dass sie nicht dazu dienen, den Sozialstaat abzubauen. Das ist auch der Sinn, dass heute - zum Leidwesen mancher konservativer Wirtschaftsexperten und -expertinnen - vor allem Kreditfinanzierungen angedacht sind, was im Übrigen historisch meist der Fall war. Das belegt jedenfalls eine Studie des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft (NZZ 10.03.2025). Es ist logisch, dass die langfristige Absicherung unserer europäischen Gesellschaften und Staaten auch langfristig finanziert wird.

Die linke EU Abgeordnete Aurore Lalucq aus Frankreich hat in einem ausführlichen Beitrag in Le Monde (14.03.2025) aufgezeigt, dass jetzt nicht die Zeit für ungerechte und antisoziale Reformen gekommen ist, die die Bevölkerung spalten. „Man sollte sich jetzt nicht des Sozialstaats (welfare) entledigen, um die Kriegsanstrengungen (warfare) zu unterstützen.“ Notwendig ist primär die Kreditfinanzierung aber auch ein gerechtes Steuersystem, das die hohen Gewinne der Waffenproduzenten abschöpft. Ihrer Meinung nach sind verstärkte Ausgaben für die Verteidigung notwendig und durchaus vereinbar mit einer Politik, die die Schwächsten schützt und den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt. Genauso eine bedachtsame Politik ist notwendig, will man eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung haben. 

Wie kann Verteidigung „europäischer“ werden? 

Europa ist trotz vieler Gemeinsamkeiten in vielen Bereichen zersplittert und geht verschiedene Wege. Das trifft vor allem auch auf die Verteidigung und auf die Verteidigungsindustrie zu. Daran hat auch die Mitgliedschaft der Mehrheit der EU-Staaten nichts geändert. Wenn Europa aber eine schlagkräftige Verteidigung haben möchte, braucht es viel mehr an Kooperation und Koordination. Zwar gibt es inzwischen schon mehrere, über nationale Grenzen hinweg, vereinbarte Projekte für die Entwicklung und Produktion von Waffen, aber das sind zu wenige. Immer noch gibt es ein Zuviel an nationaler Eifersucht. Und daher ist es auch unsinnig nur auf die nationalen Ausgaben als Prozent des BIP zu starren. Entscheidend ist nicht der Input sondern der Output und die Effizienz, die nicht zuletzt durch eine gesteigerte Zusammenarbeit im Bereich der europäischen Rüstungsindustrie und der Interoperabilität im Bereich der Verteidigung erreicht werden muss. So können auch die Schwächen in einem Land durch Stärken in einem anderen ausgeglichen werden. Wichtig ist, dass nicht die Rüstungskonzerne bestimmen welches Gerät angeschafft wird, sondern nach objektiven Kriterien die Bestellungen vorgenommen werden. Entscheidend muss sein, was zur Ergänzung und Ertüchtigung der vorhandenen Kapazitäten auf nationaler und europäischer Ebene notwendig ist.

Ein besonderes Problem ist die starke Verknüpfung der europäischen mit der amerikanischen Verteidigungsindustrie. Dazu meinte kürzlich der frühere Airbus Chef und jetzige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik, Tom Enders: „Es ist zwingend erforderlich, dass wir uns soweit und rasch wie möglich von amerikanischen Systemen unabhängig machen.“ Und konkret meinte er „Niemand braucht eine F-35“ (F.A.Z. 15.03.2025). Das amerikanische Flugzeug vom Typ F-35 stellt insofern ein Problem dar, als es in Europa weit verbreitet ist und nicht so schnell einfach ersetzt werden kann, aber der tatsächliche Gebrauch stark von den Amerikanern abhängt. Auch wenn die Flugzeuge in Europa stationiert sind, können die USA den Einsatz steuern und im Falle des Falles auch verhindern - insbesondere durch das von den USA kontrollierte Kommunikationssystem Datenlink 16.

Generell ist Europa - das wurde auch im Falle der Ukraine deutlich - stark vom US-Satellitendiensten abhängig. Vor allem Elon Musk kann sein Starlinksystem benützen, um einer europäischen bzw. ukrainischen Verteidigung zu helfen - was er bisher getan hat - oder sie zu schwächen, indem er seine Satelliten nicht mehr zur Verfügung stellt. Daher sind europäische Alternativen notwendig und auch schon in der Entwicklung, allerdings hat Europa deutlich weniger Satelliten zur Verfügung. Es ist also viel leichter gesagt, die europäische Verteidigung und Verteidigungsindustrie müssen ausgebaut und insbesondere von den USA unabhängig werden. Eine solche Strategie umzusetzen ist notwendig, aber sie braucht Zeit und kann für die Unterstützung der Ukraine zu spät kommen.

Auf der anderen Seite braucht Europa bzw. konkret die Europäische Union auch Verbündete, will sie eine wirksame Strategie entwickeln und umsetzen. Da kommen eine Reihe von NATO-Staaten außerhalb der EU in Frage, insbesondere das Vereinigte Königreich, Norwegen und Kanada. Aber auch die Türkei ist ein wichtiger - wenngleich schwieriger - Partner, vor allem, wenn es um die Sicherheit im Bereich des Schwarzen Meeres geht. Und was die Verteidigungsindustrie betrifft, so ist auch Südkorea ein wichtiger Partner. Die Europäische Union muss also einerseits versuchen, die umfassende Verteidigung als eine zusätzliche Klammer für die Europäische Einigung zu organisieren, aber anderseits muss sie auch Kooperationspartner und Verbündete außerhalb der EU suchen und pflegen. Im Idealfall bleiben auch die USA ein solcher Partner, aber an einer größeren Eigenständigkeit Europas führt kein Weg vorbei. 

Nukleare Abschreckung für Europa

Ein wichtiges Element der transatlantischen Allianz war das Vertrauen auf die nukleare Abschreckung durch die USA gegenüber jeglichem Feind. Der, auch über Europa gespannte, nukleare Schirm sollte jeden abschrecken, der sich überlegt, ein NATO-Land anzugreifen. Nur Frankreich hat seit De Gaulle diesem USA-Versprechen nicht mehr vertraut und daher auf eine eigene atomare Abschreckung gesetzt. Was ist aber, wenn die USA dem - ohnedies schwach formulierten Art.5 des Nordatlantikvertrags - der zum „Beistand“ im Falle eines Angriffs gegen einen NATO -taat verpflichtet, in Zukunft keine Beachtung mehr schenkt?  Und was ist, wenn in Folge der Distanz zum gemeinsamen Europa die USA den nuklearen Schirm zusammenklappt und ihn auch nicht im Bedrohungsfall aufklappt? Der konservativ-liberale Historiker Niall Ferguson meinte unlängst zurecht, dass es „Trumps Strategie ist, die Europäer zu verunsichern und sie davon zu überzeugen, dass Artikel 5 des NATO-Vertrags eine leistungsabhängige Vereinbarung darstellt und keine unbedingte Garantie.“ 

Aus diesem Grund wird diesmal in Europa stärker als noch vor einigen Jahren diskutiert, ob der - allerdings schwächere - französische atomare Schirm einen Ersatz bieten könnte. Allerdings will - verständlicherweise - Frankreich nicht sein Recht auf die Entscheidung des Einsatzes aufgeben und mit anderen teilen. Und jede Überlegung einer „europäischen Atombombe“ stößt auf dasselbe Problem: wer entscheidet über den Einsatz. Wenn allerdings jetzt einzelne Länder bzw. Sicherheitsexperten überlegen bzw. dazu raten eine eigene Bombe zu entwickeln, wird das  höchstwahrscheinlich zu einem atomaren Wettrüsten führen, was für den Frieden in Europa und darüber hinaus gefährlich werden kann. 

Generell kann die Trump‘sche Politik mit ihrer „America First“ Strategie und der Infragestellung bisheriger Sicherheitsversprechen de facto einen gefährlichen Impuls für die Verbreitung von Atomwaffen bewirken. Wahrscheinlich ist das global gesehen die gefährlichste Auswirkung der Trump‘schen Politik. Nicht dass den US-Sicherheitsversprechen immer zu trauen waren, aber sie haben gehalten, vielleicht auch weil sie nie jemand wirklich getestet hat. Wenn aber Amerika selbst sie zurückzieht oder in Frage stellt, ändert sich die Vertrauenslage massiv, vor allem für Länder, die im Visier von potentiellen Aggressoren stehen. So kritisch die US-amerikanische Überlegenheit und imperiale Haltung zu sehen sind, so gefährlich kann ein alternativloses und unkoordiniertes Abgehen vom Schutz kleiner Staaten zu chaotischen Verhältnissen führen. Das kann dann Länder wie Südkorea, Japan, Polen etc. verleiten sich selbst Atomwaffen zu besorgen. Und je mehr Atomwaffen vorhanden sind, desto höher das Risiko für eine absichtliche oder „unabsichtliche“ Verwendung. 

Abschreckung und Abrüstung

Unabhängig davon stellt sich die Frage der Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung. Aber wie so oft im Bereich der Sicherheit zählt nicht immer die Wirklichkeit sondern vielmehr, ob man sich sicher fühlt bzw. sicherer mit nuklearem Schutz. Aber was alle Militärs unterstreichen ist, dass - ob mit oder ohne nuklearen Waffen - primär die konventionelle Rüstung und Kampfbereitschaft zählt. Und niemand wird einen nuklearen Schirm aufspannen für jene die nicht bereit sind, sich konventionell gut zu versorgen. Nukleare Waffen sind kein Ersatz für konventionelle. Und insofern kann man ja Trump verstehen, dass er von den Europäern mehr Bereitschaft zur Verteidigung verlangt. Aber er macht das in seiner kurzfristig, chaotischen und egoistisch angelegten Art, nicht bedenkend die Konsequenzen für den Frieden in Europa und weltweit. 

Entscheidend ist aber auch nicht nur auf die nukleare - oder konventionelle - Abschreckung zu setzen, sondern das vorrangige Ziel der Friedenspolitik, die Abrüstung nicht zu vergessen. Wie auch immer in früheren Zeiten sind Abschreckung und Abrüstung nicht unbedingt Gegensätze. Sie muss aber heute viel breiter angelegt sein und insbesondere China miteinbeziehen. Was die nukleare Abrüstung betrifft, sind alle tatsächlichen Besitzer von Atomwaffen und die Länder, die nahe davorstehen, miteinzubeziehen. Angesichts der gravierenden Meinungsunterschiede und der Konflikte, die infolge aggressiven Verhaltens einiger Großmächte geschürt werden, ist die Aussicht auf Abrüstungsvereinbarungen gering. Vor allem der Konflikt zwischen den USA und China droht der Welt neues Ungemach. Aber Abrüstung und jedenfalls die Verhinderung der Verbreitung von atomaren Waffen muss auf die geo-politische Tagesordnung kommen.

Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.