EUROPA’S VERHÄLTNIS ZU KRIEG UND FRIEDEN

Teil 1

Der US-amerikanische Autor politischer Analysen, Robert Kagan, meinte 2003 in seinem Buch „Of Paradise and Power“, dass die Amerikaner vom Mars abstammen und die Europäer von der Venus. Die Amerikaner sind bereit auch mit militärischen Mitteln für „Ordnung“ auf der Welt zu sorgen, während die Europäer dazu zu faul und bequem geworden sind und das Leben genießen wollen! Demgemäß kritisierte Kagan auch Donald Trump, der sich gegen den amerikanischen militärischen Interventionismus aussprach. Für diesen war und ist der Deal, den er allerdings primär durch Einsatz starker wirtschaftlicher Drohungen und Erpressungen erreichen will, das probate Mittel die amerikanische Macht auszudehnen. Und heute sind wir genau dort, worauf uns Robert Kagan in seinem 2018 erschienenen Werk „ The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World“ aufmerksam gemacht hat. Allerdings auch der amerikanische militärische Interventionismus hat keine friedliche Weltordnung geschaffen.

Zäsur für Europa durch Putin und Trump

Der deutsche Politologe Herfried Münkler - der derzeit ein viel gefragter Interviewpartner und Kommentator und überdies Bruno Kreisky-Preisträger ist - meinte 2007 in seinem Beitrag „Heroische und Postheroische Gesellschaften“ ( Merkur, September 2007), dass heroische Gesellschaften und Gemeinschaften zu Kriegen neigen: „Heroische Gesellschaften befinden sich in einem ständigen Taumel von Kraft und Siegeszuversicht. Sie sind durchherrscht von einer Vorstellung nationaler Ehre, die bei dem geringsten Anlass schon als verletzt gilt und durch einen Waffengang wiederhergestellt werden muss.“ Dieser „Zustand der Dauererregung“ - den wir seit einiger Zeit in Russland wahrnehmen können - unterscheidet sich deutlich von den posthistorischen Gesellschaften. Diese haben „eine gewisse Tendenz, sich selbst als Zielgerade der gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren, aber daraus ziehen sie nicht die Konsequenz, dass es jetzt noch einmal auf die Mobilisierung aller Energien ankomme, sondern sie neigen dazu, sich auf der erreichten Wegstrecke dauerhaft einzurichten….Die Verhältnisse sind grundsätzlich in Ordnung; sie müssen nur gelegentlich ein wenig nachjustiert werden.“ Es ist unschwer zu erkennen, dass einerseits vor allem Russland zu den heroischen Gesellschaften gehört, aber auch die USA und anderseits die Europäer in postheroischen Gesellschaften leben. 
  
Die postheroische Einstellung ist auch mir persönlich eine sympathische. Aber was ist, wenn die postheroische Gesellschaft von einer heroischen Gesellschaft - Russland - bzw. deren Führer - Putin - herausgefordert wird? Und was geschieht, wenn eine andere heroische Gesellschaft, im konkreten Fall, die USA, die mit der posthistorischen Gesellschaft, also der Europäischen Union verbündet war, dieses Bündnis aufkündigt und sich mit der anderen konfliktbereiten und heroischen Gesellschaft verbündet? Genau diese Konstellation zeichnet sich derzeit ab. Und auf diese neue Konstellation muss Europa reagieren. 

Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler spricht in seinem Beitrag „Verrat auf offener Bühne“ (FAZ 4.3 2025) in diesem Zusammenhang von der „tiefsten Zäsur der Weltgeschichte seit dem Untergang des Sowjetimperiums in den Jahren 1989“. „Die Konvergenz, die wir heute beobachten, steht im Zeichen der gemeinsamen Absage von Trump und Putin an liberale Ordnungsvorstellungen und verpflichtende Normen.“ Auch wenn vor allem die Amerikaner und zum Teil auch die Europäer diese Normen nicht immer beachtet und sie manchmal gröblich verletzt haben, war es eine Richtschnur, auf die man immer verweisen konnte. Und vor allem Staaten des Globalen Südens konnten den Norden „zur Ordnung rufen“. Überdies konnte man hoffen, dass sich Schritt für Schritt eine friedliche, auf gemeinsam anerkanntes Völkerrecht stützende Weltordnung herstellen würde. Dieser Hoffnung wurde zuerst durch Russlands Aggression und sodann durch Trumps Annäherung an Putin - nicht nur im geopolitischen Sinn, sondern auch in Bezug auf traditionelle Werte und Geschlechterrollen - der Boden entzogen. 

Leider haben Trump und Putin in Europa auch Brückenländer und -politiker, die eine eigenständige europäische Politik erschweren. So meinte der Ost-und Südost-Historiker Martin Schulze-Wessel (FAZ vom 26.2.2025) „Zwischen der Anti-LGTB-Ideologie des offiziellen Russlands und der offiziellen USA gibt es eine Brücke mit einzelnen Pfeilern in Europa, vor allem im Ungarn Viktor Orbans“. Orban und sein slowakischer Kollege Robert Fico - und der verhinderte Volkskanzler Herbert Kickl - haben auch sonst viele Einstellungen mit Trump und Putin gemeinsam. Und genau diese Brückenländer sind bereit eine gemeinsame Abwehr gegen die neue durch Trump und Putin hergestellte Ordnung oder besser Unordnung zu verhindern. 

Manche allerdings meinen, da gibt es gar nichts zum Abwehren. Jedoch wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht und die Entwicklungen rund um Russland - aber darüber hinaus - betrachtet, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass Russland unter Putin Stück um Stück sein Staatsgebiet erweitert bzw. die Nachbarstaaten durch das Schüren von - ethnischen - Konflikten von sich abhängig machen möchte. Das betrifft vorrangig die Ukraine, aber auch Georgien und Moldawien. Inzwischen werden auch andere Drohungen ausgesprochen - insbesondere gegen die baltischen Länder. Und auch wenn man russische Ideologen wie Alexander Dugin nicht ganz ernst nehmen sollte, so sind Aussagen wie „Wählt AfD oder wir werden nochmals Deutschland besetzen und zwischen den USA und Russland aufteilen“ (F.A.Z. „Kenne deinen Feind“ in Süddeutsche Zeitung, 5.3.2025) symptomatisch! Die AfD ist ja auch die deutsche Lieblingspartei des US-Vizepräsidenten JD Vance. Da werden schon Parallelen in den Einstellungen russischer und amerikanischer Politiker und Ideologen sichtbar. 

Umfassende Resilienz

Es geht für Europa jedenfalls darum, was in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff „Resilienz“ verstanden wird, also um Widerstandsfähigkeit. Im gegenwärtigen Fall geht es vor allem um den umfassenden Widerstand gegen die hybriden Angriffe von Außen und von Innen gegen den Westen, insbesondere gegen das fragile Projekt der Europäischen Union. Da es sich um hybride Angriffe handelt, muss die Gegenwehr auch auf vielfältige Weise erfolgen. Es geht um die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhangs. Europa muss versuchen in einigen kritischen Bereichen eine technologische Führerschaft zu erlangen sowie auch eine stärkere Unabhängigkeit von kritischen Rohstoffen. Europa muss mehr Wachsamkeit, was die digitalen Medien betrifft über die eine Vielfalt von Falschmeldungen verbreitet werden, aufbringen. Aber es geht auch um die militärische Seite der Resilienz. Da sind wir bei einem wunden Punkt der postheroischen Gesellschaften. Und das europäische Projekt ist geradezu ein postheroisches Projekt par excellence. 

Schnell kommt der Vorwurf der Kriegstreiberei, wenn von der notwendigen Aufrüstung gesprochen wird. Dazu meinte unlängst der deutsche Schriftsteller Marko Martin (Süddeutsche Zeitung, 26.2.2025): “Krieg ist nicht gleich Krieg, Verteidigung nicht das gleiche wie Angriff - und die Losung „Gewalt ist keine Lösung“ gegenüber einem zu allem entschlossenen Gewalttäter nichts als ein leichtfertig ausgestellter Blankoscheck für Besatzung und Mord, somit in der Konsequenz eine Art Komplizenschaft.“ 

Der Pazifismus hat sicher – neben populistischen Motivationen – auch anzuerkennende moralische und religiöse Überlegungen. Aber wenn er nur auf einer Seite der Auseinandersetzungen ausgeübt wird, führt er notwendiger Weise zur Kapitulation. Er wird ja nicht zufällig heutzutage von Russland gefördert, allerdings nicht in Russland selbst, da wird er bestraft, sondern im gegnerischen Westen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der berühmten französischen Widerstandskämpferin Simon Weil. Sie war eine fanatische Gegnerin des Krieges. Sie änderte allerdings ihre Haltung angesichts der zunehmenden Aggression eines Adolf Hitlers. Und so nannte sie ihr Engagement 1943 „meinen verbrecherischen Irrtum vor 1939 über die pazifistischen Kreise und ihr Handeln“. (FAZ,10.3.2025) Und auch wenn Hitler nicht mit Putin zu vergleichen ist, seine Politik der gewaltsamen, völkerrechtswidrigen Ausdehnung des Staatsgebietes, sein unerbittlicher Kampf gegen zivile Ziele, und sein ideologischer Kampf gegen den Westen sollte Grund genug sein, Widerstand zu leisten und uns der Worte der Widerstandskämpferin Simone Weil zu erinnern.

Im Übrigen gilt es auch beim Ruf nach Frieden genau zu definieren, was man unter Frieden versteht. In diesem Zusammenhang hat der französische Philosoph Albert Camus bei seiner Rede in Stockholm anlässlich der Überreichung des Literatur-Nobelpreises klar zum Ausdruck gebracht, dass es um einen „ nicht auf Knechtschaft gegründeten Frieden unter den Völkern“ geht. Frieden darf also weder zur Unterwerfung führen und auch nicht so gestaltet sein, dass er den Aggressor zu weiteren Aggressionen einlädt. Auch diese Worte sollten uns mahnen, bei den hoffentlich bald kommenden Friedensgesprächen eine klare Linie zu vertreten.

Militärischer Widerstand und Diplomatie

Der österreichische Sicherheitsexperte Franz-Stefan Gady spricht in seinem jüngst erschienen Buch „Die Rückkehr des Krieges“ mit dem provokanten Untertitel „Warum wir wieder lernen müssen mit Krieg umzugehen“ auch von einem „parasitären Pazifismus“: Dieser „baut insgeheim darauf, dass andere die schmutzige Arbeit des Krieges erledigen, und leugnet gleichzeitig die Grundprämisse jeder effektiven Sicherheitspolitik: Die Einsatzbereitschaft von Streitkräften muss zum Zweck der militärischen Abschreckung und Friedenssicherung glaubhaft gewährleistet sein…..Die militärische Einsatzfähigkeit von Europas Streitkräften ist im Übrigen auf einem so niedrigen Niveau, dass wir auf Jahre hinaus nicht von Aufrüstung, sondern von Nachrüstung reden werden…“ 

Auch wenn man ehrlicherweise nur von einer Nachrüstung reden kann, so ist das kein Trost wenn man bedenkt, was sonst mit diesen Geldern ausgegeben werden kann bzw. könnte - und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Friedensdividende konsumiert wurde. Anderseits würde ohne dem Aufbau einer tatkräftigen Abwehr der potentiellen Angriffe vieles von dem in Gefahr sein, was wir in den letzten Jahrzehnten erreicht haben. Das betrifft sowohl materielle Güter als auch die gesellschaftlichen Errungenschaften. Das müsste viel stärker vermittelt werden, denn viele halten das Erreichte als gesichert. Schon mit dem Vordringen des Covid-Virus sollten wir eines Besseren belehrt worden sein. Und angesichts eines aggressiven Nachbarn muss Europa auch auf eine mögliche(!) Aggression vorbereiten.

Aber das darf keineswegs allein durch die Nachrüstung geschehen . Abgesehen davon, dass entscheidend ist wie effizient diese erfolgt, darf nie vergessen werden, dass auch diplomatische Wege begangen werden müssen. Aber sie werden nur erfolgreich sein, wenn sie mit militärischer Macht untermauert werden. Das Militärische kann bzw. darf die Diplomatie nie ersetzen und umgekehrt. Man sollte sich aber auch keinen Illusionen hingeben. Die russische Gesellschaft ist ganz auf eine Auseinandersetzung mit dem Westen getrimmt, und jetzt, nachdem die USA unter Trump sich mit Russland und Putin arrangieren möchte ist, ist die hybride Kriegsführung noch stärker gegen die Europäische Union gerichtet. Überdies sind Hinweise auf die Situation nach den Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg nicht zielführend. In beiden Fällen gab es klare Gewinner und Verlierer. Die Sieger konnten den Verlierern die Friedenslösungen diktieren. Und das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete auch das Ende der gegen die Aufklärung und die Grundrechte gerichteten faschistischen Ideologie - auch wenn wir nun viele Jahrzehnte später in manchen Ländern ein Revival erleben müssen. 

Verhandlungen mit Russland sind Verhandlungen mit einem Land, dass zwar nicht das erreichte, was es wollte, aber Russland wurde nicht geschlagen. Putin hat Teilsiege errungen, wird das russisches Territorium de facto erweitern können und wird seine autoritäre und menschenverachtende Politik sicher nicht aufgeben - jedenfalls nicht freiwillig. Auch wenn die russische Aggression vielen Russen das Leben gekostet und Familien ins Unglück gestürzt hat, für ein autoritäres Regime bedeutet das kein Ende. Und es kann seine neo-imperiale Politik fortsetzen. Genau um das zu verhindern, muss sich der Westen rüsten. Und insoweit die USA nicht mehr bereit sind, mit den Europäern gemeinsam die Resilienz des Westens zu stärken, muss Europa diese Aufgabe erfüllen. Auch wenn das ohne die USA und deren speziellen Kapazitäten nur schwer möglich ist. Es erfordert jedenfalls einen großen finanziellen Aufwand. Und wahrscheinlich müssen auch neue Strukturen gefunden werden: manche EU-Länder können nur am Rande mitmachen und andere wollen sich gar nicht an europäische Verteidigungsinitiativen beteiligen. Anderseits können Länder außerhalb der EU wie Großbritannien, Norwegen und auch Kanada den verteidigungsbereiten Kern der EU unterstützten. Und auch die Türkei könnte für eine stabilere Ordnung in Europa, vor allem in der Schwarzmeerregion eine wichtige Rolle spielen. Es wird also viel Phantasie und Kreativität benötigt, um den sich um viele europäische Staaten herausbildenden „neuen Westen“ politisch zu konstituieren und militärisch nachzurüsten. 

Tatsache ist jedoch wie Herfried Münkler vor kurzem feststellte, dass sich Europa „geopolitsch in einer Sandwichposition“ befindet: „Von der russischen Seite werden sie fortgesetzt mit nuklearen Drohungen eingeschüchtert, die in den letzten drei Jahren ja durchaus politische Wirkung gezeitigt haben (was man im Kreml genau beobachtet hat), und von US-amerikanischer Seite werden sie seit der ersten Präsidentschaft Donald Trumps politisch erpresst, zumindest bedrängt, all das zu tun, was man in Washington von ihnen erwartet“. ( FAZ Sonntagszeitung, 16.3.2025) Es wird nicht leicht sein sich aus diesem Dilemma zu befreien. Die Frage ist ob und wer in Europa dazu bereit ist.

Aber Europa darf niemals vergessen, dass neben der militärischen Stärke auch das was der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Ney als „soft power“ bezeichnet hat zählt. Dabei müssen sich „soft power“ und die militärische Komponente der Macht ergänzen. Die Werte die die Europäische Union zur Grundlage ihrer Gründung und ihrer Weiterentwicklung genommen hat, sollten respektiert und vertreten werden - ohne allerdings zu versuchen sie den globalen Partnern missionarisch aufzuzwingen.  Um Freunde zu gewinnen braucht man jedenfalls eine stimmige Politik, „denn für große Teile der Welt, für die Demokratie und Rechte wichtig sind, ist die Vertretung dieser Werte eine  entscheidende Quelle der sanften Macht.“ ( Joseph Ney, Financial Times, 8/9.3.2025)

Mehr zu Frage der europäischen Verteidigungspolitik in Teil 2

Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.