Es gibt wohl kaum eine Region, die so stark von Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist, wie der Nahe Osten. Nicht nur stehen einzelne Länder im Streit miteinander, sondern auch Religionen bzw. unterschiedliche Richtungen ein und derselben Religion und unterschiedliche ethnische Gruppen bekämpfen sich. Aber auch nicht-staatliche Gruppen sind Teil dieser Konflikte und werden von Regierungen einzelner Länder instrumentalisiert, um Einfluss und Macht in anderen Ländern zu gewinnen.
Nationale und regionale Allianzen der Zerstörung
Angesichts dieser chaotischen Zustände ist es nicht verwunderlich, dass Akteure außerhalb der Region sich einmischen bzw. zur Unterstützung eingeladen werden. Dass betrifft insbesondere die USA, die die historischen und imperialen, regionalen Machthaber wie das Vereinigte Königreich und Frankreich abgelöst haben. Aber auch Russland - und früher die Sowjetunion - haben immer wieder versucht das Schicksal der Region durch Unterstützung von Verbündeten zu beeinflussen und inzwischen hat auch China - wenn auch begrenzt - im Nahen Osten Fuß gefasst. Dabei kam es im Laufe der Geschichte, auch nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Machtverschiebungen. Vor allem die Gründung Israels und die damit ungelöst gebliebenen Fragen bezüglich des Schicksals der Palästinenser, die zum Teil vertrieben wurden, hat neue Fakten geschaffen.
Die arabischen Länder haben über lange Zeit die Existenz eines eigenen Staates für die Juden bzw. eines rein jüdischen Staates in Frage gestellt. Der Iran hingegen hat unter dem Schah zum Teil mit Israel zusammengearbeitet. Und auch Israel hat versucht gute Beziehungen zum Iran entwickeln, um ein Gegengewicht zu den arabischen Staaten aufzubauen. Mit der Iranischen Revolution und Ayatollah Khomeini als Obersten Führer hat sich das radikal geändert. Die besonderen Beziehungen zu schiitischen Gruppierungen, die in Ansätzen unter dem Schah begonnen haben, haben unter Khomeini und insbesondere mittels des - von den USA inzwischen getöteten - Chefs einer der Revolutionsgarden, Qasem Soleimani, zu verstärkten Einflüssen im Libanon, Syrien und dann in Gaza geführt. Inzwischen sind auch die Huthis in Jemen Teil des gegen Israel und die USA gerichteten militanten Netzwerkes. Es sind dies Netzwerke, die vor allem auf Zerstörung aus sind oder zumindest massive Zerstörungen in Kauf nehmen.
Der Hauptfeind für den revolutionären Iran und seine Verbündeten war und ist Israel. Diese Feindschaft half dem Iran sich gegenüber den arabischen Ländern, die als zu kompromissbereit gebrandmarkt wurden, abzuheben und anderseits hat diese betont gepflegte Feindschaft gegenüber Israel - und seinen wesentlichen Verbündeten die USA – geholfen, auch innenpolitisch die Bevölkerung hinter die Machthaber in Teheran zu scharen. Die Bevölkerung und insbesondere die fanatischen Anhänger der Revolution wurden so immer wieder auf das Regime selbst und auf die Gegnerschaft zu Israel und die USA eingeschworen. (Siehe dazu vor allem das jüngst erschienene Buch von Mohsen M. Milani „Iran‘s Rise and Rivalry with the US in the Middle East)
Das „Palästina Problem“ bleibt ungelöst
Diese Feindschaft verhalf auch israelischen Politikern, vor allem dem Langzeitpremier Bibi Netanyahu, vom eigenen Versagen, eine Lösung mit den Palästinensern zu erreichen, abzulenken. Die iranische Führung und Netanyahu haben sich gegenseitig in die Hände gespielt. Zwar haben die vielen Friedensgespräche zu Zeiten, in denen Netanyahu nicht an der Macht war, zu - allerdings vielfach fragil gebliebenen - Teillösungen geführt, aber entscheidende Fragen blieben offen. Das betrifft vor allem die Frage der Einbindung des Gaza-Streifens in die - noch zu definierende - politische Einheit Palästina. Diese Wunde begann in regelmäßigen Abständen zu bluten und davon profitierten die Radikalen in Israel selbst und in den muslimischen Nachbarstaaten. (Siehe dazu das jüngst auf Deutsch erschiene Buch von Itamar Rabinovich, „Israel und der Nahe Osten“)
Inzwischen hat sich aber - nicht zuletzt auf Grund der bewusst unterlassenen Lösungsangebote seitens Israel - die ohnedies nicht kompromissbereite Hamas radikalisiert. Und auf der anderen Seite hat die PLO-Führung unter Mahmud Abbas weder Ideen noch Mut aufgebracht, um von sich aus Vorschläge für Schritte in Richtung der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Palästinenser zu machen. All das hat Netanyahu ausgenützt, um eine Koalition mit der extremistischen und zum Teil rassistischen Rechten in Israel zu schließen. Ihm ging es ja primär um sein eigenes politisches Überleben und nicht um Lösungen für ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern.
Die durch die Rechte unternommen Versuche, die Demokratie und den Rechtsstaat abzubauen, haben enorme Proteste in Israel hervorgerufen und das politische Klima belastet. Parallel haben die USA versucht, in Nachfolge der Abraham-Abkommen, die zur Aufnahme von diplomatischen Beziehungen Israels mit einigen arabischen Ländern geführt haben, auch Ähnliches zwischen Israel und Saudi-Arabien zu erreichen. Allerdings haben die bisherigen Abkommen zu keinen Verbesserungen der Lage der Palästinenser geführt. Auch wenn das ein Grund war, warum Saudi-Arabien noch nicht zu einem Abkommen mit Israel bereit war, befürchteten manche Gruppen der Palästinenser, dass es auf Druck der USA doch noch vor den Präsidentschaftswahlen 2024 zu einem Abkommen kommen könnte. Und das mag auch die radikalen Palästinenser veranlasst haben ihren allerdings schon länger geplanten grausamen Terroranschlag zum 7. Oktober 2023 zu verüben. Dieser in seiner Brutalität und Unmenschlichkeit bisher unbekannte Terror hat Israel zu einer ebenfalls bisher unbekannten Zerstörungswut veranlasst.
Und auch wenn weder der Iran selbst noch die mit dem Iran eng verbündete und verwobene Hisbollah direkt in den Gaza-Krieg eingegriffen haben, hat sich das Kriegsgeschehen auf den Libanon ausgeweitet und auch dort Tod, furchtbare Zerstörungen und Leid verursacht. Zeitlich parallel zu diesen kriegerischen Auseinandersetzungen hat sich in Syrien eine nicht mehr erwartete radikale Veränderung ergeben. Syriens brutaler Diktator wurde gestürzt und Chancen für ein neues friedliches Syrien haben sich eröffnet. Aber eben nur Chancen, ist doch Syrien von verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen bewohnt und hat darüber hinaus furchtbare Zerstörungen und eine massive Abwanderung junger Fachkräfte erlitten. Vor allem der türkische Präsident Erdogan versucht dabei, durch Einfluss auf die neuen Machthaber in Damaskus, zu verhindern, dass die kurdischen Gruppen einen autonomen Status erhalten und so ein Vorbild für kurdische Gruppen in der Türkei darstellen. Alle am Frieden interessierten Kräfte sollten jedenfalls alles daran setzen, dass nicht neuerlich Kräfte von außerhalb das Land de-stabilisieren.
Neue Chancen bieten sich an
Unabhängig davon hat der Sturz von Syriens Präsident Bashir-al- Assad, so wie auch die massive militärische Intervention Israels im Libanon, den Iran geschwächt. Genau diese neue Machtlage in der Region bietet die Chance, die extremen Gegnerschaften und Konflikte abzumildern und in einen friedlicheren status quo überzuführen. Weder wird die Hamas ganz aus der Region verschwinden, noch ist von Iran zu erwarten, dass es plötzlich bereit ist mit Israel Frieden zu schließen. Eine am Frieden interessierte US-Regierung würde aber den ohnedies geschwächten Iran und einen neuen realistischeren Präsidenten des Irans ausnützen, um zu einem neuen Atomabkommen zu kommen. Darüber hinaus würde sie - in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union - den Wiederaufbau in Syrien unterstützen - unter der Bedingung, dass die syrischen Machthaber die fundamentalen Rechte aller Syrer und insbesondere der Frauen unter ihnen anerkennen! Eine Stabilisierung Syriens, an der auch die Türkei ein Interesse haben sollte, würde wesentlich zum Frieden in der Region beitragen! Auch die neu gewählten politischen Führungspersönlichkeiten im Libanon würden von einem neuen Abkommen mit dem Iran und von stabileren Verhältnissen in Syrien eine Unterstützung erfahren! Sie könnten dann auch gegenüber der Hisbollah stärker auftreten und von ihr verlangen, dass sie ihre militärischen und sektiererischen Aktivitäten zurückfährt.
Und eine vernunftgeleitete US-Regierung würde Israel auffordern, konkrete Lösungen für die Zukunft des Gaza-Streifens zu entwerfen und gemeinsam mit Ägypten und Jordanien und mit Unterstützung von Saudi-Arabien solche Lösungen umzusetzen. Stattdessen will sich Donald Trump den Gaza-Streifen aneignen und - nach der Vertreibung der Palästinenser nach Ägypten und Jordanien - eine blühende Riviera für die „Reichen und Schönen“ dieser Welt entwickeln. Und die israelische Rechte jubelt dazu und beginnt in noch stärkerem Ausmaß die Palästinenser im Westjordanland zu schikanieren, um sie auch von dort zu vertreiben.
Besonders was den Gaza-Streifen betrifft, haben Yair Hirschfeld und Yitzhak Gal kürzlich auch in Wien einen konkreten Plan vorgestellt: „Rebuilding Gaza as a Part of a Palestinian Economy Leap Plan and a Wider Regional Stabilization Process”. Dabei geht es den Autoren darum, Palästina und Israel in die regionale Wirtschaft des Nahen Osten zu integrieren. Parallel dazu sollte eine von den USA unterstützte arabisch-israelische Sicherheitskooperation aufgebaut werden. Wie im Gaza-Plan von Präsident Trump würden auch gemäß diesem Plan die unmittelbaren Nachbarn Ägypten und Jordanien eine wichtige Rolle spielen. Allerdings nicht indem diese beiden ohnedies wirtschaftlich schwachen Länder gezwungen werden, die Vertriebenen aus Gaza aufzunehmen, sondern indem sie aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Israel und auch aus dem Wiederaufbau von Gaza Nutzen ziehen. Nach diesen Ideen geht es nicht so sehr um die Errichtung einer Riviera, sondern unter anderem um die Schaffung eines von Israel und den Palästinensern gemeinsam betriebenen Hafens und auch um eine Eisenbahnstrecke, die Gaza mit der Westbank verbinden würde. Und - darauf verweist vor allem das israelische Arava Institut - es gilt, die katastrophale Verschlechterung der Umweltsituation in Gaza zu bekämpfen und neue, gesunde Lebensbedingungen zu schaffen.
Die vielen Vorschläge, die im Detail von Hirschfeld und Gal ausgearbeitet wurden, mögen angesichts des israelischen Widerstands die grundlegenden Rechte der Palästinenser anzuerkennen und im Hinblick auf den Gegenvorschlags von Donald Trump naiv klingen, aber die beweisen, dass es durchaus umsetzbare Ideen zur Überwindung des konfliktgeladenen status quo gibt. Dabei bleiben die Fragen, der institutionellen Gestaltung, also welche Staats- und Regierungsform das zukünftige Palästina einnehmen soll, offen. Das ist auch momentan nicht zentral. Die Umsetzung jeglicher Verbesserungen der Lebensbedingungen der Palästinenser setzt aber in allen Fällen eine stärkere regionale Zusammenarbeit voraus. Eine Politik für Gaza, die auch die Menschenrechte der Palästinenser anerkennt, würde auch die Europäische Union unterstützen.
Ein grundlegendes Problem ist sicherlich die Kompromisslosigkeit der gewaltbereiten Hamas, die durch friedliche Lösungen an Einfluss massiv verlieren würde. Zwar würde die Umsetzung dieses Plans die Hamas nicht zum Verschwinden bringen, aber ihr immer mehr die Luft für ihre terroristischen Aktionen nehmen. Und die den Wirtschaftsplan begleitende Sicherheitspartnerschaft würde das Übrige tun, um die Hamas im Schach zu halten. Selbstverständlich sollte man sich keine Illusionen machen, dass guter Wille und kluge Pläne alle Widerstände und die zerstörerischen Kräfte in der Region aus dem Weg räumen würden. Fanatismus sowie Machtspiele aus der Region und von außen werden nicht von heute auf morgen verschwinden. Aber der Nahe Osten könnte ein Testfall für eine neue globale Zusammenarbeit werden, zu der alle Interessierten einen Beitrag leisten könnten, der ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen aber auch denjenigen der Bevölkerung in der Region dienlich sein würden. Und vielleicht könnten in diesem Sinn auch Russland, China und Indien etc. dafür gewonnen werden - aus eigenem, vor allem wirtschaftlichen Interesse - an Konfliktlösungen beteiligt zu werden. Man soll die Hoffnung nie aufgeben.
P.S. Zu diesem Thema diskutierte ich im Rahmen der Falter Podcast Reihe gemeinsam mit Itamar Rabinovich und der Buchautorin Nadine Sayegh („Die Orangenbäume gibt es nicht mehr“).
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.