UNGARN: VON DER REVOLUTION ZUM AUTORITARISMUS

Der Weg Ungarns und einiger seiner führenden Politiker vom Kampf gegen die Diktatur zum Errichten eines autoritär regierten Staates ist bemerkenswert. Ungarn ist dabei in mancher Hinsicht ein prototypisches Beispiel, weist allerdings auch einige Besonderheiten aus. 1955 war es das erste kommunistisch regierte Land, das sich mit der Ungarischen Revolution gegen die sowjetische Vorherrschaft wandte. Leider scheiterte der Versuch. Manche, die diese Revolution als Konterrevolution verdammten, hatten es dann Ende der Achtziger Jahre zuwege gebracht, Ungarn vom Kommunismus und der Diktatur hin zu einer Demokratie und einem Vielparteienstaat zu entwickeln.

Einer davon war Imre Posgay. Ich konnte Ende der Achtziger Jahre an einem Treffen in Budapest von kommunistischen und einigen sozial-demokratischen Parteien teilnehmen in denen Posgay seine Reformvorschläge präsentierte. Der hochrangige sowjetische Vertreter bei diesem Zusammentreffen, Walentin Falin war vorsichtig verständnisvoll, die Vertreter der DDR massiv dagegen. Jedenfalls hat Imre Posgay, der einst die Ungarische Revolution von 1956 wüst beschimpfte, sie Ende der Achtziger Jahre als Volksaufstand bezeichnet und mitgeholfen, die kommunistische Diktatur - auch wenn sie als Gulaschkommunismus bezeichnet wurde - zu überwinden. Jahre später allerdings wurde er dann ein - wenn auch unbedeutender - Ratgeber von Viktor Orban.

Der Wandel eines Viktor Orban

Dieser Viktor Orban prägte viel nachhaltiger das heutige Ungarn. Auch er unterzog sich und das Land einer gründlichen Transformation. Hatte er - nach seiner Tätigkeit als kommunistischer Jugendfunktionär - seine Karriere als Kämpfer gegen die Diktatur und für die Freiheit begonnen, so hat er zunehmend die Freiheit, vor allem die Meinungsfreiheit in Ungarn, eingeschränkt. Aber es geht auch noch um mehr.

Zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft 2011 meinte ich im Europäischen Parlament: „Das Mediengesetz fügt sich in ein Paket von Maßnahmen, die alle autoritäre Züge zeigen: Die Schmälerung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes, die überfallsartige Nominierung eines willfährigen Staatspräsidenten und die diskriminierende Steuerbelastung für europäische Unternehmen.“ Für mich und vieler meiner Kolleginnen und Kollegen war aber auch die – zumindest - Toleranz gegenüber dem Antisemitismus und der Diskriminierung der Roma-Bevölkerung ein Grund für die Kritik an Viktor Orban.

Und in einer Debatte zu einem Bericht über die Lage der Grundrechte Ungarns, zu der das Europäische Parlament Viktor Orban geladen hatte, meinte ich: „Sie haben gesagt, Sie müssen Ungarn verteidigen und schützen. Ich weiß nicht gegen wen, denn sie sind Mitglied der Europäischen Union und ein Teil dieser Union, die für Rechtsstaatlichkeit sorgen muss.“

Aber genau diese fiktive und propagandistisch ausgenützte Verteidigungshaltung ist etwas, was alle autoritären Kräfte auszeichnet. Da geht es dann vor allem um die Verteidigung des christlichen Abendlands gegen die Zuwanderer. Die brauchen inzwischen alle Länder der EU und so auch Ungarn. Aber das zeichnet auch die Doppelmoral der autoritären Kräfte aus: Die Zuwanderer sind die größte Gefahr, aber dann holt man sie sich über Umwege und möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit, um die offenen Stellen am Arbeitsmarkt besetzen zu können.

Bei Viktor Orban und einigen seiner autoritären Kollegen in der EU kommt aber inzwischen noch die Sympathie für das extrem autoritäre Russland - und auch China - hinzu. Aber auch für den autoritären Donald Trump, der ja auch mit Putin liebäugelt. Da bildet sich eine lose Gemeinschaft von autoritären Kräften, die die Grundsätze der liberalen Demokratie aushebeln wollen. Ob es die FPÖ in Österreich oder die AfD und das BSW in Deutschland sind, die innerstaatlichen autoritären Einstellungen mischen sich mit der Sympathie für das Russland Putins. Diese Mischung ist für die Kohärenz und den Zusammenhalt der Europäischen Union besonders gefährlich. Sie unterminieren damit auch die Ansätze einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Und so erodieren auch die Grundwerte, auf die die Europäische Union aufgebaut wurde.

Ungarns zweite Ratspräsidentschaft

In der Debatte zu der diesjährigen ungarischen Ratspräsidentschaft sprach die Kommissionspräsidentin Van der Leyen klare Worte zu den Abweichungen von den europäischen Werten und Beschlüssen. Sie kritisierte die Verdrehung der Ursachen für den Ukraine „Konflikt“. So fragte sie, ob man nun auch die Ungarn für die russische bzw. sowjetische Invasion 1956 verantwortlich machen sollte und nicht Moskau? Sie kritisierte auch die doppelbödige Migrationspolitik Ungarns, wenn sie russische Staatsbürger ohne Sicherheitscheck nach Ungarn und chinesische Polizei in Ungarn wirken lasse. Im Übrigen kritisierte sie auch die vorzeitige Entlassung von Menschenschmugglern aus den ungarischen Gefängnissen. Und auch die eindeutig diskriminierende Behandlung von europäischen Unternehmungen griff sie wieder auf.

Ungarn ist unter Viktor Orban einen weiten Weg gegangen von einem Land das sich zweimal - 1956 und 1989 - gegen die Diktatur und für die Freiheit engagierte, in ein Land, das autoritär und nationalistisch agiert. Orban kritisiert lieber die Europäische Union und ihre Werte als das autoritäre Putin Regime mit seiner nihilistischen Einstellung gegenüber den Menschenrechten. Genau das hat er wieder einmal an diesem 23. Oktober, dem ungarischen Nationalfeiertag gemacht! Orban verglich auch in dieser Rede Brüssel mit Moskau und rief zum Kampf gegen den Feind in Europas Hauptstadt auf!

Einige Tage vorher gab es ein Treffen Orbans mit dem slowakischen Premier Robert Fico und dem serbischen Präsidenten Alexander Vucic in Komarno an der Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei! Einig waren sie sich in der verstärkten Abwehr von Flüchtlingen und sie freuten sich über den Stimmungswechsel innerhalb der EU! Und obwohl Ungarn als Präsidentschaft der EU auf die rasche Umsetzung des beschlossenen Migrations- und Asylpakts drängen muss, hat Ungarn angekündigt, dass es genau diesen Pakt nicht nur ergänzen, sondern auch verändern möchte.

Ein Besuch in Budapest

Am heurigen 23.Oktober kam auch eine Delegation ehemaliger EU-Abgeordneter zu einem Besuch bei der ungarischen Präsidentschaft nach Budapest. Es war ein strahlend schöner Tag und die vielen Monumente in den Straßen und Plätzen der ungarischen Hauptstadt, die heroische Persönlichkeiten aus der Geschichte Ungarns darstellen, machten deutlich, dass sich - jedenfalls das nationalistische Ungarn - immer wieder in einer Abwehrsituation gegen äußere Feinde zu befinden glaubt. Und wer gegen äußere Feinde kämpft muss auch gegenüber inneren Feinden wachsam sein, sie könnten ja auch mit den äußeren Feinden zusammenarbeiten.

So hat die ungarische Regierung auch kürzlich ein „Amt zum Schutz der Souveränität“ geschaffen. Damit kann auf jede zivilgesellschaftliche Organisation und deren Mitglieder Druck ausgeübt werden. Dies vor allem - aber nicht nur - wenn sie ausländische finanzielle Unterstützung annimmt. Dies kommt noch zur Konzentration der Medien in den Händen der Vertrauten von Viktor Orban hinzu, wobei diese auch unerhörte Summen in den sozialen Medien ausgeben, nachdem sie bemerkt haben, wie wichtig diese für die Beeinflussung der jungen Menschen sind. Die Kontrolle über all das, was die Menschen an Informationen erfahren können, soll ziemlich umfassend sein.

Vor allem können dann die verschiedenen Falschmeldungen, nicht zuletzt über die - ungerechte und diskriminierende - Europäische Union verbreitet werden. Und so kommt es auch, dass die ungarische Bevölkerung zwar noch immer die Mitgliedschaft in der EU - und der NATO - befürwortet, aber zunehmend EU kritisch wird. Vor allem, da die Regierung und die Regierungspartei FIDES die EU für die verminderte Auszahlung von EU-Mitteln verantwortlich macht und nicht das kontinuierliche Verletzen der EU-Verträge durch Ungarn selbst.

Ungarn und die neue globale (Un)-Ordnung

Für die Zukunft der Europäischen Union ist sowohl die innenpolitische Umgestaltung des Landes in Richtung eines autoritären Systems als auch die „eigenständige“ Außenpolitik Ungarns von Bedeutung. Das erstere infiziert bzw. unterstützt ähnliche Kräfte in der Union und vor allem in der europäischen Nachbarschaft. Haben in früheren Zeiten die ungarische Rechte zur Unterstützung der ungarischen Minderheiten durchaus auch Konflikte mit den Nachbarländern ausgetragen, so geht es jetzt um den Ausbau der Solidarität mit den autoritären Politikern in diesen Ländern.

Was nun die weitere europäische Nachbarschaft und die globale Situation betrifft, so zeigt die ungarische Regierung eine eigenartige moralische Neutralität gegenüber der Haltung Russlands und Chinas. In der Ukraine will man Frieden, wie auch immer er zustande kommt. Wie der Europaminister Ungarns und einige prominente Abgeordnete uns gegenüber betonten, geht es vor allem um das Interesse Ungarns. Und ein Viktor nahestehender Balazs Orban meinte: „Wir hätten gerade wegen 1956 nicht getan, was Präsident Selenskij vor zweieinhalb Jahren getan hat.“ Die Ukraine hätte all besser die russische Invasion akzeptieren sollen.

Orban selbst hat bei seiner Rede am Nationalfeiertag vor dem Einmarsch slawischer Truppen in Ungarn gewarnt - und Beobachter meinen, er hatte dabei ukrainische Truppen vor Augen. Das anti-ukrainische Sentiment hat bei unserem Gespräch im ungarischen Parlament ein Abgeordneter aus dem Nahbereich der Ukraine geschürt, wobei klar wurde, dass in diesem Fall die ungarische Minderheit in der Ukraine zur Unterstützung der ungarischen Ukrainepolitik herhalten muss. Man muss allerdings zugeben, dass die Sprachenpolitik der Ukraine auch nicht von großer Sensibilität gegenüber der ungarischen Minderheit gekennzeichnet ist.

Grundsätzlich ist die ungarische Regierung und die Parlamentarische Mehrheit der Meinung, dass man sich einfach mit den gegebenen globalen Verhältnissen arrangieren und nicht unnütze Kontroversen austragen sollte. Und als solches kann man dieser Gegenposition gegen die Versuche, den Primat des Westens bzw. vor allem der USA unbedingt aufrechtzuerhalten, auch einiges abgewinnen. Allerdings konsequent gedacht läuft eine solche Haltung auf eine Kapitulation vor den imperialen Bestrebungen Russlands aber auch Chinas hinaus. Dies wäre ein Freibrief für alle Mächtigen, sich kleiner, schwächere Staaten willfährig zu machen.

In der jetzigen Situation kann Ungarn auf Grund seiner vom Westen abweichenden Haltung beide Großmächte für Investitionen gewinnen. Würde aber der gesamte Westen eine solche Haltung einnehmen, wäre es mit dieser privilegierten Haltung Ungarns vorbei. Ich sehe jedenfalls in der Haltung eines Viktor Orbans nicht nur eine unmoralische Haltung, sondern auch eine, die der Anwendung von Gewalt Vorschub leistet - von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung und gegen die Nachbarn der gewaltbereiten Großmächte.

P.S. Mich treffen die Entwicklungen persönlich besonders, habe ich doch ein starkes Nahverhältnis zu diesem Land. Meine Mutter wurde in Ungarn, in Miskolc, von einer ungarischen Mutter geboren. Im Revolutionsjahr 1956 bekamen wir zwei ungarische Kinder in die Klasse, mit denen ich Deutsch lernen sollte. Als für Stadtplanung und Stadtentwicklung zuständiger Stadtrat in Wien war ich für die geplante, dann allerdings abgesagte gemeinsame Weltausstellung Wien-Budapest zuständig. Im Zuge dieser Planungen entwickelte ich ein besonders Verhältnis zum liberalen Budapester Bürgermeister Gabor Demszky. Und mit dem Wiener Bürgermeister Helmut Zilk traf ich in Wien den damaligen Außenminister und späteren Regierungschef Gyula Horn und in Budapest den ersten Ministerpräsidenten des freien Ungarns Jozsef Antall. So unterschiedlich diese Persönlichkeiten waren - kommunistisch/sozialistisch, liberal bzw. konservativ - so sehr haben sie an der Etablierung eines demokratischen Ungarns in einem gemeinsamen Europa gearbeitet.

Viktor Orban ging bald einen anderen Weg. Ihn traf ich sowohl in Budapest als auch im Europäischen Parlament. Auch wenn er im persönlichen Gespräch - zumindest in den ersten Regierungsjahren - keineswegs ungut war, seine Politik entwickelte sich immer mehr weg von den europäischen Grundwerten. Selbst sein früherer Außenminister Janos Martonyi, mit dem ich immer wieder Kontakt hatte, konnte daran nichts ändern. Und so sehr auch sein heutiger Europaminister - der im Übrigen im EU-Parlament bei einem liberalen ungarischen Abgeordneten als Assistent arbeitete - bei unserem Besuch in Budapest kenntnisreich und pragmatisch argumentierte, an der Realität einer autoritär und anti-europäisch handelnden Regierung ändert das nichts. Solange die eigene Bevölkerung und das übrige Europa Viktor Orban wirken lässt oder sogar unterstützt, wird er den autoritären und gegenüber der Ukraine unsolidarischen Weg gehen.

Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.