Die EU und der Iran: Chancen für eine neue Strategie?

Erschienen in DERSTANDARD am 31.10.2024

Im Gastblog beleuchtet Politikwissenschafter Heinz Gärtner den schwindenden Einfluss der EU im Nahen Osten, insbesondere im Verhältnis zum Iran, und schlägt eine kreative diplomatische Lösung vor, bei der die EU Sanktionen gegen den Iran im Austausch für dessen Anerkennung Israels innerhalb der Grenzen von 1967 aufheben könnte, um den Frieden in der Region zu fördern.

Auf die Tötungen von Führungspersönlichkeiten von Irans Verbündeten der Hamas und Hisbollah auf iranischem Staatsgebiet und im Libanon glaubte der Iran Vergeltung üben zu müssen, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Er schickte 180 Raketen nach Israel. Dieser Gewaltzyklus wird nicht enden, wenn er nicht durch eine politische und kreative Lösung unterbrochen wird.

Wo ist die EU?

Die Europäische Union (EU) hat immer mehr Einfluss im Mittleren Osten im Allgemeinen und auf den Iran im Besonderen verloren. Wie kann sie nun diesen Einfluss zurückgewinnen?

  • Die EU hat es versäumt, das von Präsident Donald Trump 2018 einseitig gekündigte Nuklearabkommen mit dem Iran (JCPOA) wiederzubeleben. Sie bleib tatenlos. Der von der EU geschaffene INSTEX-Mechanismus, der den EU-Staaten, die Geschäfte mit dem Iran machen wollen, helfen sollte, die von den USA angedrohten Sanktionen zu umgehen, blieb völlig zahnlos. Der damalige iranische Präsident Rohani hatte gehofft, dass die EU die Sanktionen im Zusammenhang mit den Beschränkungen des Nuklearprogramms aufheben würde. Hingegen trug die EU alle Sanktionen der USA mit. Diese Politik stärkte die Gegner des JCPOA und die Anti-Westlichen Kräfte im Iran.

  • Die EU hat keine Alternativen zum sogenannten Trump/Kushner-Plan für den Mittleren Osten von 2019 angeboten. Er hätte den Palästinensern ein völlig zerklüftetes Gebiet hinterlassen. Im Gegenzug wurden finanzielle Zuwendungen versprochen, die von arabischen Staaten kommen sollten, die das nie bestätigt haben. Die "Abraham-Abkommen" von 2020 zwischen Israel und einigen arabischen Staaten bauten auf diesem Plan auf. Die von der EU seit Jahrzehnten entwickelten Pläne für eine Zwei-Staaten-Lösung blieben in der Schublade.

  • Das Abkommen zwischen dem Iran und Saudi-Arabiens 2023 wurde nicht von der EU, sondern von China vermittelt. Der Gipfel der EU mit einigen Golfstaaten Mitte Oktober 2024 in Brüssel sollte das Verhältnis der EU zu diesen Staaten verbessern. Das betraf nicht nur Energie, Handel und Investitionen, sondern auch Russlands und Chinas Einfluss in der Region zu begrenzen.

  • Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste im Iran im Herbst 2022 stellte die EU die Kooperation mit dem Iran vollständig ein.

Irans Antwort

Diese mangelhaften Beziehungen zwischen der EU und dem Iran hatten negative Konsequenzen.

  • Der Iran baute sein Nuklearprogramm seit 2019 langsam, aber stetig aus. Der Anreicherungsgrad des Urans wurde auf 60 Prozent erhöht, wobei 90 Prozent für den Bau einer Nuklearwaffe nötig wären. Die Lager von angereichertem Uran von 20 bis 60 Prozent vervielfachten sich. Neue Zentrifugen wurden installiert. Alle diese Entwicklungen waren unter dem JCPOA von 2015 verboten, aus dem die USA ausgestiegen sind.

  • Die europäischen Staaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland legten im Gouverneursrat der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien jedes Jahr eine Resolution vor, die den Iran wegen mangelnder Kooperation verurteilten.

  • Der Iran suchte sich alternative Partner. Er wurde in die Shanghai-Kooperationsorganisation (SCO) zentralasiatischer Staaten und in die erweiterten BRICS-Staaten aufgenommen. Der Iran lehnte sich immer stärker an China und Russland an. Mit beiden Ländern wurde eine 20- bis 25-jährige Kooperation vereinbart. Mit Russland gab es vor allem Rüstungsverträge. An China wurde vor allem Öl geliefert, allerdings unter dem Weltmarktpreis, was von Russland und den Golfstaaten aber mit Argwohn betrachtet wird. Die Golfstaaten sehen Irans Zusammenarbeit mit Russland misstrauisch, weil sie auf ihre Kosten gehen könnte. Insgesamt hat die Kooperation des Iran mit Russland und China Grenzen, weil diese beiden Staaten auch sowohl mit Israel und den anderen Golfstaaten gute Beziehungen aufrechterhalten wollen. Sie werden dem Iran bei einem offenen militärischen Konflikt mit Israel nicht zu Hilfe kommen.

  • Der Iran verstärkte seine Bande mit der "Achse des Widerstandes", die vor allem aus der Hisbollah im Libanon, der Hamas im Gaza und Milizen in Syrien und im Irak besteht. Daraus entsteht aber auch für den Iran ein Dilemma. Diese entwickelten aber zunehmend ein Eigenleben und eigene Interessen. Deren Konflikte mit Israel drohen immer mehr, den Iran in einen direkten Krieg mit Israel hineinzuziehen, was dieser vermeiden will.

Ein kreativer Vorschlag

Die EU hat gemeinsam mit den USA den Iran mit immer mehr Sanktionen belegt. Sie betreffen das Nuklearprogramm, die Lieferung von Drohnen und Raketen an Russland und Menschenrechtsverletzungen. Sie haben das Verhalten des Iran nicht geändert. Die EU könnte sich aber über Bestrafungen hinaus größere Lösungen überlegen, um den Konflikt Israels mit dem Iran zu entschärfen.

Sie könnte dem Iran anbieten, einen Großteil der Sanktionen aufzuheben, wenn er Israel innerhalb der Grenzlinien von 1967 anerkennt. Damit würde die EU ihre Verpflichtung zur Zwei-Staaten-Lösung innerhalb der Grenzlinien von 1967 bestätigen. Der Vorschlag würde sich auch innerhalb des arabischen Friedensplanes von 2002 bewegen, der vorsieht, Israel nur in den Grenzen von 1967 anzuerkennen. Die Begründung des Iran, seine nichtstaatlichen Verbündeten, Hamas, Hisbollah und die Huthi unterstützen zu müssen, würde an Bedeutung verlieren. Israel würde sich nicht mehr in seiner Existenz bedroht fühlen. Die Existenz Israels müsste für die EU oberste Priorität vor allen anderen Maßnahmen haben.

Eine historische Analogie wäre der Besuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und seines Außenministers Henry Kissinger in China 1972, als es um die Festlegung der Ein-China-Politik ging. Am Rande des Treffens versprach der Parteivorsitzende Mao, die Unterstützung der kommunistischen Aufständischen in Südostasien einzuschränken, was dann auch passierte. (Heinz Gärtner, 31.10.2024)


Heinz Gärtner unterrichtet an der Universitäten Wien. Er war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP). Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren unter anderem an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Unter anderem ist er Herausgeber des Buches "Engaged Neutrality" (Lexington).