Die Diskussionen nach und zu den jüngsten Wahlen in den USA, aber auch in einigen europäischen Staaten, waren nicht zuletzt durch den Unterschied zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Wahlverhalten einzelner Bevölkerungsgruppen und durch Einschätzung der Opfergefühle in weiten Teilen der Bevölkerung gekennzeichnet. Viele - vor allem liberale und linke Kräfte - haben erwartet, dass die nicht-weiße Bevölkerung (Schwarze, Latinos etc.) mit deutlicher Mehrheit Kamala Harris wählen und dass ebenso deutlich Frauen die Kandidatin der Demokraten wählen würden.
Spaltungen in westlichen Gesellschaften
Die Spaltung der Bevölkerung in den USA ist jedenfalls nicht entlang den von den Liberalen/Linken erwarteten Linien erfolgt. Diese Art der Aufspaltung hat nicht funktioniert. Und so wurde der Kandidat, der durch seine brutale Art und Redeweisen die Gesellschaft ganz anders spaltete, gewählt. Überwogen haben neben wirtschaftlichen und sozialen Fragen durchaus auch kulturelle, aber anders als erwartet. Sie erfolgte entlang der Linie zwischen „denen da Oben“ und „uns da Unten“, zwischen den „echten Amerikanern“ und den - vor allem irregulären - Zuwanderern.
Hinzu kam noch das Gefühl vieler ein Opfer zu sein: Opfer der von der Regierung nicht verhinderten Inflation, Opfer der Bestrebungen des Staates durch die Impfempfehlung, die Freiheit der Menschen einzuschränken, Opfer einer überbordenden Bürokratie. Die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz meinte unlängst in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Frank Schirmacher-Preises diesbezüglich: „Wir leben in beispiellosem Wohlstand unter dem Schutz früher ungekannter Menschenrechte, und doch war die Opferrolle noch nie so weit verbreitet wie heute.“
Die Betonung der Opferrolle hängt eng mit der Verbreitung der Identitätspolitik zusammen. Eva Illouz geht davon aus, dass diese dazu führte, dass „die Opferrolle nicht mehr zu einer Quelle der Scham“ wurde, also „die Schande nicht mehr aufseiten des Opfers, sondern des Täters liegt.“ Und das ist durchaus positiv zu beurteilen. Aber auf der anderen Seite hat die Betonung der Opferrolle eine „universalistische Linke gegen eine identitäre Linke ausgespielt“.
Um es konkreter zu sagen, die Schuld am Sexismus liegt nun eindeutig am Verhalten der sexistischen Männer, für den Rassismus gegenüber den Schwarzen sind die rassistischen Weißen verantwortlich etc. Anderseits führt aber die Überbetonung der Opferrolle und die Verallgemeinerung der Täterschaft - alle Männer sind sexistisch, bzw. alle Weißen sind rassistisch - zu einer Spaltung des liberalen Teils der Gesellschaft. Und dies führt letztlich zur Wahl derjenigen, die sich gegen solche Verallgemeinerungen wehren - gleich mit welchen abstrusen und vorurteilsbehafteten Worten dieser Widerstand zum Ausdruck gebracht wird.
Identitätspolitik gegen Universalismus
Mit einer Orientierung an den unterschiedlichen Identitäten und den Opfern gesellschaftlicher Verhältnisse geht der universalistische Anspruch der liberalen und linken Kräfte verloren. Der Politologe Omri Boehm meint dazu in seinem Werk „Radikaler Universalismus - Jenseits von Identität“: „Eine universalistische Politik muss in einer Veränderung dessen bestehen, wer „wir“ sind und wie „wir“ unsere Werte verstehen, und zwar nicht im Verhältnis zu unseren vergangenen Identitäten, Werten und Geschichten, sondern im Verhältnis zu einer Verpflichtung auf die Wahrheit, die unsere Interessen, Intuitionen und Bequemlichkeiten übersteigt - und darüber entscheiden wird, wer wir in Zukunft sein werden.“
Vielfach ist es bequemer sich auf sein Opferdasein zu berufen und das primär in Verbindung zu seiner - ethnischen, nationalen, religiösen bzw. sexuellen - Identität zu sehen. Selbstverständlich sollte nicht geleugnet werden, dass es Vergehen und schwere Verbrechen gerade auch auf Grund der Identität der Opfer gibt. Und vielfach wird ja von Radikalen und Extremisten die Identität derjenigen unterstrichen und hervorgehoben, die man in der Folge attackieren und diskriminieren und vor allem als Sündenböcke hinstellen möchte.
Genau diese Zuschreibungen, die immer mit gut gegen böse verbunden sind, polarisieren die Gesellschaften generell und speziell mit Konsequenzen für das Wahlverhalten. Es ist so wie Yascha Mounk in seinem „Standardwerk“ „The Identity Trap“ schreibt: „Demagogen blühen auf in Gesellschaften, die extrem polarisiert sind und Entscheidungsträger nicht mehr die Meinungen der durchschnittlichen Bürger/Bürgerinnen kennen.“
Das ist besonders in Frankreich, aber auch in Deutschland, den Niederlanden und in Österreich der Fall. Auch das Orban-System in Ungarn beruht darauf, das christliche Abendland gegen die unchristlichen und vor allem muslimischen Einwanderer zu verteidigen. Es sind nicht immer die Liberalen/ Linken, die die ethnischen Unterschiede unterstreichen. Allerdings gelingt es den Rechten aus diesen Betonungen einen Gewinn zu ziehen. Die ethnischen, religiösen und nationalen Differenzen nutzen sie nämlich, um solche Gruppen zu diskriminieren und sie als Gefahr für die Allgemeinheit darzustellen. Dabei werden auch die Intellektuellen und Kulturschaffenden, die diese Gruppen unterstützen und für deren Rechte eintreten, zu Feinden erklärt.
Die spezielle Situation des Balkans
Eine Region in der Identitätskonflikte und eine ausgeprägte Opferkultur eine große Rolle spielen ist der Westbalkan. Diese Konflikte begannen nicht erst mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens. Besonders im Jugoslawien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, also in der Tito Ära, versuchte der Großteil der politischen Führung einen universalistischen, nationalen Ansatz. In westlichen Staaten wie Deutschland, Italien und vor allem Frankreich diente die Nationsbildung der Überwindung des sprachlichen, religiösen etc. Partikularismus. In diesen Phasen hatte der Nationalismus eine durchaus positive Funktion, wenngleich er heutzutage der Bildung eines gemeinsamen Europas im Wege steht.
Aber in Jugoslawien hat anscheinend die Überwindung der unterschiedlichen Partikularismen versagt. Verschiedene Bevölkerungsgruppen bzw. politische Kräfte sahen sich als Opfer der zentralen Autoritäten in Belgrad und insbesondere der größten Bevölkerungsgruppe, der Serben. Und in der Tat gibt es viele Anhaltspunkte und vor allem der gewaltsame Widerstand gegen die Auflösung des gemeinsamen Staates, dass dieser von vielen als nicht so gemeinsam empfunden wurde wie in den offiziellen Deklarationen kundgetan.
Dieser gewaltsame Auflösungsprozess schuf erneuert viele Opfer. Natürlich waren die sich abspaltenden Länder bzw. Bevölkerungsgruppen Opfer des serbischen Widerstands. Aber auch die Serben sahen sich - und sehen sich zum Teil noch immer - als Opfer. Vor allem in Bezug auf die Trennung des Kosovo. Aber auch die Abspaltung von Montenegro wird von manchen noch immer als ungerechtfertigt empfunden. Und selbst innerhalb einzelner Nachfolgestaaten, wie vor allem in Bosnien-Herzegowina, gibt es viele unterschiedliche Opfer, in besonderem bei der serbischen Bevölkerung. Natürlich wird das auch politisch geschürt und als Basis für weitere Secessionsforderungen genützt. Immer wieder schwebt manchen Machthabern eine ethnisch reine Nation als Idealbild vor.
Die wichtigsten Aufgaben bleiben auf der Strecke
Diese Kontinuität und Konstanz der Auseinandersetzungen entlang ethnischen/religiösen/sprachlichen Trennlinien hat entscheidenden Anteil an der Stagnation der politischen und zum Teil wirtschaftlichen Situation im Westbalkan. Viele junge Menschen emigrieren, weil sie erkennen, dass die wesentlichen Aufgaben von der Verbesserung der Ausbildung, dem Anreiz für mehr Investitionen, der Verbesserung der Umweltqualität insbesondere der Luftqualität nicht oder nur unzureichend angegangen wird. Solange sich zu viele als Opfer sehen, bzw. sich auf die ethnische Zugehörigkeit als das Wesentliche konzentrieren, besteht für die Lösung allgemeiner Aufgaben keine ausreichende Zeit und Kraft.
Nun darf man aber nicht übersehen, dass in einer solchen Situation eine rein universalistische Politik Schwierigkeiten hat sich durchzusetzen. Das ist im Falle der Politik von Premierminister Kurti im Kosovo zu erkennen. Da stehen sich eine extrem auf ihre serbische Identität pochende Bevölkerung im Norden des Landes einer Politik entgegen, die die Besonderheiten dieser Bevölkerungsgruppe nicht anerkennen möchte. In diesem Fall kommt noch hinzu, dass das „Mutterland“ Serbien - insbesondere sein Präsident - seine Hände im Spiel hat und auch spezielle wirtschaftliche Interessen einiger Führungspersonen eine Rolle spielen.
Ähnlich gelagert aber doch mit einigen Unterschieden ist die Situation in Bosnien-Herzegowina. Da kämpfen zwei Ethnien bzw. Religionen um Einfluss innerhalb der bosnisch-kroatischen Föderation und die politischen dominanten Kräfte der Republika Srbska drohen immer wieder mit einer Abspaltung. Diese permanenten Auseinandersetzungen verhindern einen durchgreifenden politischen und wirtschaftlichen Aufschwung. Wahrscheinlich war Dayton mit seiner auf Ethnien abgestimmten Verfassung die einzige Chance den Krieg zu beenden. Aber eine solche „identitäre“ Konstruktion steht schon seit längerem der Bewältigung der wichtigsten Aufgaben entgegen.
Gelassenerer Umgang mit Konflikten?
Es macht wenig Sinn die ethnischen, religiösen etc. Unterschiede zu leugnen bzw. unter den Tisch fallen zu lassen. Auch sollte keine Geschichtsleugnung erfolgen. Aber es gilt im Sinne der Vorbereitung auf die Zukunftsaufgaben auch auf ständige Hinweise auf die Schuld der Anderen zu verzichten. Arnon Grünberg meinte in der NZZ aus Anlass der Zwischenfälle zwischen Juden und Muslimen/Palästinenser nach einem Fußballspiel in Amsterdam: „Die Reaktion, die Überreaktion, ist unter Umständen schädlicher als der Vorfall selbst. Relativieren ist nicht nur eine Überlebensstrategie, sondern auch ein Weg, um zu koexistieren. Natürlich kann die Relativierung zu Verharmlosung führen, zum leichtfertigen Herunterspielen von schweren Verbrechen. Aber solange wir in einer Kultur leben, in der persönliche Subjektivität und Identität Götzen sind, in der jeder die Krone der Opferrolle tragen will, ist eine solche Relativierung eine nützliche Medizin.“
Wahrscheinlich kann Versöhnung ohne eine gewisse „Relativierung“ nicht geschehen. Diese kann vor allem dadurch gelingen, dass man zumindest versucht die Sicht der anderen Seite zu sehen und Erklärungen zu finden. Erklären und verstehen heißt aber nicht Untaten zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Orte der Erinnerung, wie in Srebrenica, sind ein wichtiger Beitrag, vor allem für die Familien der Opfer. Und jedenfalls sind transparent und fair geführte Gerichtsverfahren ein wesentlicher Beitrag zur Versöhnung. Dies vor allem in Bezug auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Unabhängig davon muss ein solcher Versöhnungsprozess, und es handelt sich meist um langfristige Prozesse, mit der Bewältigung der wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufgaben einhergehen. Das gemeinsame Arbeiten an diesen Aufgaben löst nicht die Aufgabe der Versöhnung aber sie erleichtert sie wesentlich. Es ist ohne Zweifel schwierig aus der jetzigen Situation, der offen gebliebenen ethnischen Konflikte und der von Demagogen immer wieder unterstrichenen Opferrolle bestimmter Teile der Bevölkerung, herauszukommen. Noch dominieren diejenigen, die davon bei den Wahlen Gewinne erzielen. Wir dürfen aber nicht in diese Falle geraten, der Ausweg kann nur in einer an allgemeinen Aufgaben orientierten Politik bestehen.
In diesem Sinn meint Omri Boehm: „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit löscht die Identitäten nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können.“ Oder anders gesagt, die Identitäten und auch das Empfinden Opfer zu sein, müssen in einer Politik - ob der Regierung oder der Zivilgesellschaft - eingebettet sein, die das allgemeine Wohl anstrebt und nicht das einzelner Gruppen.
Und die deutsche Schriftstellerin mit kroatischen Wurzeln, Jagoda Marinc meint: „Wer seine Identität vor allem und mit zunehmender Ausschließlichkeit aus seiner Minderheitenerfahrung erzählt, blendet andere Teile seiner Lebensgeschichte aus, die Lebenswelten etwa, in denen es nicht war, entsprechend steigert sich die Wut, entsprechend mehr verinnerlicht man das „Othering“ der Mehrheitsgesellschaft und wünscht sich paradoxerweise zu erlösen, indem man die Antipode dieser Gesellschaft sein will.“ So machen diese Menschen aus dem „fluiden Ich“ ein „sich verhärtetes Ich“.
Jagoda Marinic verfasst ihre Thesen zur Politik unter dem Titel „Sanfte Radikalität“, denn „wer sich für Aggression entscheidet, setzt die Gewaltspirale fort, in sich und in anderen“. Die sanfte Radikalität bedeutet allerdings kein Resignieren und Nachgeben gegenüber der Gewalt. Sie ist sehr wohl auf Veränderungen aus. Und setzt voraus, dass die politischen Verhältnisse auch Veränderungen zulassen. Sie ist keine Antwort auf kriegerische Aggression die auch(!) mit militärischen Mitteln zu beantworten ist. P.S. Die Idee zu diesem Blog kam mir während einer Debatte mit „Young Leaders“ aus einigen Balkan-Staaten im Rahmen der „Belgrad Security Conference“. Sie wollten von mir und einem ehemaligen Diplomaten der USA wissen, welche Erfahrungen wir an sie weitergeben könnten bzw. wollten. Ich ging besonders auf meine Erfahrungen auf dem Balkan ein.
Mein erster Besuch - noch in meiner Eigenschaft als Wiener Stadtrat - galt der Stadt Sarajevo am 1000. Tag der Belagerung. Kein Wunder, dass die ethnischen und auch religiösen Grenzziehungen und Konflikte deutlich und schmerzhaft erkennbar waren. In vielen Besuchen danach war ich - und meine Kolleginnen und Kollegen aus dem EU-Parlament - immer bemüht mit Vertretern aller ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen Kontakt zu haben und sie zur Zusammenarbeit aufzurufen. Leider oft vergebens.
Für Nord-Mazedonien, das damals unter dem Namen FYROM firmierte, war ich der Berichterstatter für das erste Assoziierungsabkommen mit der EU. Bald nach dem Abkommen kam es allerdings zu gewaltsamen Konflikten zwischen der albanischen Minderheit und der mazedonischen Mehrheitsbevölkerung. Glücklicherweise erkannten alle Verantwortlichen, dass solche Auseinandersetzungen das Land nur zerstören würden.
Im Kosovo, den ich im Rahmen einer Delegation des Europäischen Parlaments 1979 das erste Mal besuchte, wurde mir bald klar, dass hier nur eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo und die staatliche Trennung von Serbien zum Frieden führen kann. Aber bei all unseren Besuchen danach haben wir immer auf die Rechte der serbischen Bevölkerung und deren Vertreter und Vertreterinnen gepocht. Leider sind die Spannungen auch heute noch nicht überwunden.
Für Kroatien war ich von Beginn der Verhandlungen bis zum EU-Beitritt der Berichterstatter im EU-Parlament. Diese Arbeit wurde mir insofern erleichtert, als alle politischen Kräfte und so auch die an den jeweiligen Regierungen beteiligte Partei der Serben, am Ziel des EU-Beitritts festhielten.
In diesen Ländern, aber auch in Montenegro und Albanien waren die besonderen Anliegen der Minderheiten immer ein Thema meiner bzw. unserer Gespräche. Aber im Vordergrund standen immer die gemeinsamen Ziele und vor allem der gemeinsam zu gehende Weg in Richtung Europäische Union. Leider wurde von beiden Seiten immer wieder Stolpersteine auf den Weg gelegt. Nur Kroatien konnte die EU-Mitgliedschaft erlangen. Und das ist jetzt auch schon mehr als 10 Jahre her. Es ist Zeit weitere Schritte zur EU-Erweiterung zu nehmen.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.