Erschienen im DERSTANDARD am 30.09.2021.
Der Westen muss einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung, aber auch zur Durchsetzung der Grund- und Freiheitsrechte leisten
Afghanistan liegt weit entfernt von uns, die wir uns im Herzen Europas meist sehr sicher fühlen. Dennoch sollten wir die katastrophale Entwicklung, die dieses Land durchgemacht hat, und vor allem das Scheitern der militärischen Intervention nicht einfach aus unseren Gedanken verdrängen. Zwar haben alle militärischen Interventionen in Afghanistan für die Bevölkerung viel Unglück gebracht, aber die US- beziehungsweise Nato-Intervention war mit großen Hoffnungen auf Befreiung, Modernisierung und Demokratisierung verbunden. Dass nach den brutalen Anschlägen vom 11. September 2001 eine militärische Reaktion folgen würde, war bald klar. Aber es hätte nicht ein zwanzigjähriger Krieg werden müssen, der letztendlich katastrophal scheiterte.
Ursachen der Katastrophe
Jeffrey Sachs, der bekannte US-Ökonom und politische Kommentator, hat kürzlich ein vernichtendes Urteil gefällt: "Die Dimension des Versagens der Vereinigten Staaten in Afghanistan ist atemberaubend. Dabei handelt es sich nicht um ein Versagen von Demokraten oder Republikanern, sondern um ein dauerhaftes Versagen der amerikanischen politischen Kultur, das sich im mangelnden Interesse der US-Politik äußert, andere Gesellschaften zu verstehen." Damit ist ein grundlegendes Problem der US-Interventionen in vielen Ländern angesprochen. Die US-Behörden und das sicherheitspolitische Establishment gehen viel zu sehr von eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt sein sollte, aus. Wenn man die Geschichte der US-Geheimdienste, vor allem der CIA, betrachtet und die Informationen, die von dort an die verschiedenen US-Präsidenten et cetera gegangen sind, so sind sie voll von haarsträubenden Fehleinschätzungen. Das mangelnde Interesse, den "Gegner" beziehungsweise die Bevölkerung der Länder, die für eine militärische Intervention "auserwählt" wurden, zu verstehen, ist sicher das Grundübel, warum Interventionen viel kosten, aber kaum Erfolge bringen.
Dennoch gibt es immer wieder Argumente, die solche Interventionen verteidigen beziehungsweise zu verbesserten Strategien im Rahmen solcher Interventionen auffordern, gerade auch in Europa, insbesondere in Deutschland. So meinte der deutsche "Orientalist" Navid Kermani, dass nicht die Intervention als solche einen Fehler dargestellt hat, sondern die zu stark militärische Ausrichtung. Mehr Entwicklungshilfe hätte auch größere Erfolge gebracht. Er kritisierte, dass man viele Einsätze den korruptesten Warlords und Drogenbaronen und auch den Wiederaufbau einer absolut korrupten Wiederaufbauindustrie überlassen hat. Man hätte auch nicht mit den Taliban verhandeln dürfen, und das größte Desaster war der Rückzug der US-Truppen. Jochen Buchsteiner hält dem entgegen, dass das Scheitern der Mission schon von Anbeginn klar war: "Es war das Gefühl moralischer Überlegenheit, eine fast atemberaubende Selbstgerechtigkeit, die den Westen international auf die abschüssige Bahn gebracht hat. [....] Man sieht die Welt, wie man sie sehen will, und beschäftigt sich vornehmlich mit sich selbst."
Man kann jedenfalls Demokratie nicht von außen einem Volk oktroyieren. Dabei war die Etablierung von Wahlen als wesentlicher Inhalt der Demokratisierung noch relativ einfach, wie der Politikwissenschafter Francis Fukuyama schreibt. "Der Aufbau eines kompetenten und wenig korrupten Staates lag völlig außerhalb der Fähigkeiten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten." Sicher hat also Navid Kermani recht, dass im Vollzug der militärischen Intervention viele Fehler gemacht wurden. Aber einerseits beruhen auch sie auf einer mangelnden Sensibilität und Kenntnis beziehungsweise Interesse an der lokalen Kultur, und andererseits sind sie wahrscheinlich auch unvermeidbar, wenn man in Ländern interveniert, die durch eine so turbulente Geschichte gekennzeichnet sind und die so fremde und unterschiedliche ethnische Gruppen aufweisen, die ihrerseits verschiedene Kulturen und Interessen haben. Francis Fukuyama meint auch – wahrscheinlich zu Recht –, dass aus dem Jubel, der in Berlin nach dem Fall der Mauer ausbrach, ein falscher Schluss gezogen wurde. Einen ähnlichen Jubel erwartete man sich in Afghanistan und im Irak.
Hoffnungen und die Verantwortung des Westens bleiben
Auch wenn ein vergleichbarer Jubel ausblieb, so heißt das nicht, dass die Intervention in Afghanistan (und so auch im Irak) nicht auch vielen Menschen die Hoffnung auf ein freieres und besseres Leben gebracht hat. Das gilt vor allem für Frauen, die unter dem Taliban-Regime besonders diskriminiert wurden. Die große Frage ist, ob und wie man ihnen jetzt helfen kann, zumindest einen Teil ihrer in den letzten zwanzig Jahren erworbenen Rechte zu behalten. Dazu sollten vor allem auch die internationalen Organisationen im Rahmen der UN-Familie beitragen. Sie sollten darauf drängen, dass Mädchen die Schulen und Universitäten besuchen können, dass Frauen das Haus verlassen und arbeiten dürfen et cetera. So sollte auch die wirtschaftliche Unterstützung an solche Minimalrechte gebunden werden. Auch sollte die Bevölkerung die Möglichkeit erhalten, aus einer modernen Wirtschaft, insbesondere auch Landwirtschaft, Einkommen zu beziehen.
Das heißt vor allem, dass der Anbau von Schlafmohn und der Handel mit Rauschgiften zurückgedrängt werden sollte. Die Verdienstmöglichkeiten sollten aus anderen Quellen kommen. Nach dem militärischen sollte kein wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rückzug erfolgen. Afghanistan sollte nicht aus unserer Aufmerksamkeit verschwinden. Aber am Dialog mit den neuen Machthabern sollte nicht nur der Westen teilnehmen, sondern er sollte auch multilateral geführt werden. Gerade die gestiegene Missachtung der Vereinten Nationen und anderer multilateraler Organisationen, vor allem durch die USA, hat dem Westen nicht genützt, sondern geschadet. Nur durch eine engagierte multilaterale Strategie kann sichergestellt werden, dass nicht die kurzfristigen Interessen des Westens, sondern die der verletzlichen Bevölkerungsteile im Vordergrund stehen.
Vielfach wurde spekuliert, ob nicht Russland und vor allem China vom Rückzug des Westens profitieren. Sicher wird in diesen Staaten das Scheitern des Westens mit Schadenfreude beobachtet. Aber das heißt nicht, dass nicht auch Russland und China mit Sorge die neue Entwicklung beobachten. Beide haben schon terroristische Attentate zu spüren bekommen, und beide wollen eine stabile Umgebung. Sicher tun sie sich leichter, da sie von vornherein nicht so sehr an einen Regimesturz denken und weniger wählerisch bei der Auswahl von Partnern sind.
Kooperation mit China?
China ist in einer besseren Situation als Russland, weil es mit seiner Seidenstraßen-Initiative eine vor allem wirtschaftliche Strategie der Verbindung zwischen China und anderen Staaten bereits geschaffen und dabei Erfahrungen gesammelt hat. Allerdings bedarf es bezüglich Afghanistans großer und risikoreicher Investitionen in die Infrastruktur, um die Bodenschätze des Landes zu bergen und zu transportieren. Dennoch hat China politische und geografische Vorteile. Allerdings könnte langfristig Afghanistan davon profitieren, wenn auch der Westen am Markt als Nachfrager für die Bodenschätze Afghanistans auftreten würde. Und die wirtschaftliche Entwicklung, die durch den Handel mit ihnen befördert werden würde, ist sicher auch für die soziale und gesellschaftliche Entwicklung des Landes als positiv einzuschätzen.
In diesem Sinn wäre es von Vorteil, würde der Westen und vor allem die Europäische Union mit allen Nachbarn und so auch mit China zusammenarbeiten, um die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung des Landes so zu beeinflussen, dass sich das Land ohne Gefahren für die Region oder auch für die globale Sicherheit entwickelt. Andererseits – wirtschaftlich gesehen – könnte durchaus eine Konkurrenz um die vorhandenen Bodenschätze dem Land helfen.
Der Rückzug der USA und der Nato-Truppen war ohne Alternative, wenn er auch etwas geordneter hätte erfolgen können. Aber angesichts der katastrophalen humanitären Lage, die der Westen zumindest mitverursacht hat, darf es jetzt keine Ablehnung einer Verantwortung für die Zukunft des Landes geben. Der Westen muss einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung, aber auch zur Durchsetzung der Grund- und Freiheitsrechte leisten. Nicht mit militärischer Gewalt, sondern mit Sensibilität und pragmatischen Koalitionen mit den Nachbarn Afghanistans. Da gibt es manche Gemeinsamkeiten, die heute mehr betont werden sollten als die Gegensätze. Was weder Afghanistan noch Europa brauchen, ist eine Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China. Europa darf sich nicht in eine globale Anti-China-Allianz der USA einspannen lassen. Es muss klare Regeln der Zusammenarbeit mit China setzen, die auf Gegenseitigkeit und Gleichbehandlung beruhen. Wirtschaftlich bleibt China ein Konkurrent, aber das kann der Weltwirtschaft nur nützen.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.