WOHIN TREIBT‘S EUROPA? - Teil 2: Europa und der Rest

Allzu oft ist - das westliche, liberale - Europa, von einer sehr eurozentrischen und arroganten Sicht auf die Welt ausgegangen. Da gab es Europa und die USA, also den Westen und den Rest. Diese Sichtweise hing eng mit dem Kolonialismus zusammen, in dem viele europäische Staaten eine unrühmliche Rolle gespielt haben. Und auch nach der formellen Entkolonialisierung gab es oft einseitige Abhängigkeiten. Oftmals haben Kolonialländer auch nach der Unabhängigkeit ihrer ehemaligen Kolonien militärisch und/oder ökonomisch interveniert. Der - ehemals belgische - Kongo ist das furchtbarste Beispiel. Und vielfach haben andere Länder innerhalb Europas diese Haltung akzeptiert oder sogar davon profitiert. Man darf auch nicht vergessen, dass die ursprüngliche europäische Einigung in Form der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften von Ländern gegründet wurde, die alle eine Verstrickung in eine koloniale Vergangenheit hatten - mit Ausnahme von Luxemburg. 

Auf dem Weg vom Kolonialismus zur Partnerschaft 
Interessanterweise wurde das erst wesentlich durch die „Osterweiterungen“ 2004 und 2007 geändert. Hier kamen Länder in die EU, die über Jahrzehnte von Moskau aus gelenkt und beherrscht wurden, also eine deutlich koloniale Vergangenheit hatten. Leider haben gerade die Länder bzw. deren Vertreter*innen, die unter der sowjetischen Kolonialmacht gelitten haben, wenig Interesse für die Anliegen der ehemaligen Kolonien der westlichen Mächte gezeigt. Paradoxerweise ging die Neuorientierung in Richtung Partnerschaft eher von den Ländern aus, die eine imperiale Vergangenheit hatten. Man fühlte sich aus unterschiedlichen Gründen für eine Neuordnung verantwortlich, wenngleich dabei auch Reste einer kolonialen Haltung eine Rolle spielten. 

Man darf aber grundsätzlich nicht übersehen, dass - ungewollt - Imperien immer wieder auch ihre peripheren Gebiete langfristig zu Konkurrenten machen. Peter Heather und John Rapley zeigen in ihrem Werk „Why empires fall“ am Beispiel vom antiken Rom und dem Westen, dass bei allen Schäden, die Imperien den von ihnen dominierten und abhängigen Ländern zufügen, langfristig neue Konkurrenten heranwachsen. Und damit ergibt sich notwendigerweise das Erfordernis, die Beziehungen neu zu gestalten. 

Am deutlichsten konnte ich die Neuorientierung in Richtung Partnerschaft im Europäischen Parlament bemerken. In den dortigen Beratungen spielten Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und überhaupt der Part des Globalen Südens eine große Rolle. Nicht alle Parlamentarier waren frei von kolonialen Einstellungen, aber viele waren starke Kritiker*innen des kolonialen und dann neo-kolonialen Verhaltens mancher europäischen Regierungen. Insgesamt vertrat - und vertritt - das EU-Parlament mit dem Globalen Süden eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich. Aber selbstverständlich sind Verbesserungen in diesen Beziehungen immer möglich und auch notwendig.

Solche Verbesserungen bedürfen aber starker, gemeinsamer Kräfte aus dem „Rest“ der Welt. Die Versuche des „Südens“ dem Westen (und dem Ostblock) etwas entgegenzusetzen waren lange Zeit nicht sehr erfolgreich. Die Organisation der blockfreien Länder wurde zunehmend geschwächt, einerseits durch die - wenngleich oft nur formale - Entkolonialisierung, anderseits durch ein zunehmendes Gewicht der unabhängig gewordenen Länder in internationalen Organisationen. Auch entwickelten manche führenden Köpfe der blockfreien Länder nicht gerade modellhafte Strukturen und Politiken in ihren Ländern. Das betrifft vor allem eine Reihe von Ländern in Afrika. Das hat den Block der paktfreien Länder geschwächt.

BRICS Treffen in Durban
Eine neue Dynamik entfaltete sich durch den Zusammenschluss einiger großer Länder des Südens - Brasilien, Indien und Südafrika - mit Russland und China in der sogenannten BRICS-Organisation. Diese Länder haben das gemeinsame Ziel Alternativen zur westlichen Dominanz in verschiedenen internationalen Organisationen zu entwickeln und durchzusetzen. Dabei sind die Interessen durchaus unterschiedlich und manche Länder stehen sogar im Wettbewerb bzw. im Konflikt zueinander, wie zum Beispiel China und Indien. Diese beiden neuen Großmächte haben einen Konflikt über den Verlauf der gemeinsamen Grenze und stehen im Wettbewerb hinsichtlich des Einflusses in Asien.  

Letztendlich hat auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine Russland und insbesondere Präsident Putin in Schwierigkeiten gebracht. Angesichts der Gefahr einer Verhaftung infolge eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofes zog Putin es sogar vor, dem diesjährigen Gipfeltreffen - vom 22. bis 24.8. in Durban - fernzubleiben. Die BRICS-Staaten haben sich Russland gegenüber nicht feindlich verhalten, aber sehen Russland in Bezug auf den Krieg keineswegs unschuldig. 

Unbeschadet der internen Schwierigkeiten und Widersprüchen bleiben die BRICS-Staaten bei ihrem Vorhaben den westlichen - europäischen und amerikanischen - Konzeptionen der globalen Beziehungen und Organisationen etwas entgegenzusetzen. Und inzwischen haben sich mehrere Länder des globalen Südens um Mitgliedschaft bei BRICS beworben. Inwieweit diesem Wunsch nachgeben wird und inwieweit das die BRICS-Staaten stärkt und neue Gemeinsamkeiten herstellen kann, wird man sehen. 

Russlands Krieg und der globale Süden
Aus europäischer Sicht, hat der UNO-Botschafter anlässlich der Debatte über den Krieg Russlands gegen die Ukraine klar gemacht, dass es sich um einen imperialen und kolonialen Krieg handelt. Und so müssten alle, die selbst Opfer eines kolonialen Imperiums gewesen sind, Russland für diesen Krieg verurteilen. Aber dem war nicht so. Die koloniale Erfahrung war ja nicht eine mit Russland. Der anti-koloniale Kampf musste gegen eine bestimmte westliche Macht - bzw. gegen den Westen schlechthin - geführt werden. Der Vorgängerstaat Russlands, die Sowjetunion, war sogar - verbal und/oder mit Waffen - an der Seite der anti-kolonialen Bewegungen gestanden. Diese historischen Argumente wurden und werden immer wieder ins Treffen geführt, wenn es um die Rechtfertigung einer Enthaltung oder einer Gegenstimme bei der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung ging.

Hinzu kommt, dass viele Länder bzw. Regierungen keine Welt wollen, in der der Westen weiterhin die stärkste Kraft darstellt. Sie wollen eine multipolare Welt mit möglichst vielen Polen mit denen sie sich abwechselnd verbünden können. Die meisten Länder stehen daher nicht auf der Seite Russlands, aber dieser „europäische“ Krieg ist nicht der ihre. 

Hinzu kommt, dass die sich langsam entwickelte Haltung des Westens, insbesondere der Europäischen Union, für Demokratie und Menschenrechte von einigen Staats- bzw. Regierungschefs abgelehnt wird. Diese fühlen sich stärker zum autoritären Putin hingezogen als zu einer Europäischen Union mit „ihren“ Werten. Es ist daher auch kein Wunder, dass beim letzten, wenn auch schwach besuchten, Afrika-Russland-Gipfel einige menschenverachtende Diktatoren Putin deutlich unterstützten. Und einige haben sogar die Wagner-Truppe ins Land geholt, um ihre Macht zu erhalten und das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum Putin seinem Freund Prighozin seine Untreue verzeiht.  

Nun, dass kein Missverständnis entsteht: die pro-demokratische und auf die Einhaltung der Menschenrechte pochende Haltung der EU ist lückenhaft und wird oftmals durch sicherheitspolitische Überlegungen konterkariert. Das kann man vor allem in der Sahelzone, aber auch im Nahen Osten sehen. Dennoch, die Haltung der EU unterscheidet sich deutlich von der Russlands und die Aktivitäten der europäischen Soldaten deutlich von der der Wagner-Truppe. Vielfach wird von den Partnern der Europäischen Union sogar kritisiert, dass sie ihnen „ihre“ Werte aufzwingen wollen - zum Unterschied von China und Russland. Das gilt insbesondere für eine Reihe afrikanischer Länder. 

Afrika der Nachbar Europas
Kein Kontinent ist geografisch so nah zu Europa gelegen wie Afrika. Sein Schicksal ist auch aus diesem Grund eng mit dem Europas verbunden. Die Migration und Flucht aus Afrika stellt Europa immer wieder vor neuen Herausforderungen. Insbesondere von rechtspopulistischer Seite wird sie als immense Gefahr dargestellt und Horrorzahlen der zu erwartenden Migrationsbewegungen an die Wand gemalt. Und das, obwohl nach wie vor die afrikanische Binnenmigration der Migration nach Europa bei weitem überwiegt. Aber wahr ist, dass Armut, klimatische Veränderungen, politisch geschürte Konflikte, der radikale Djihadismus etc. immer neue Fluchtbewegungen in Gang setzt. Man sollte dabei aber auch nicht übersehen, dass der Wohlstand in Europa nicht so sehr von Migration gefährdet, sondern sogar von Migration in den alten Kontinent abhängt. Allerdings ist dies auch eine Frage der Anzahl und der Qualifikation der Flüchtlinge und Migrant*innen.

Neben den Migrationsströmen durch die Sahelzone und Nordafrika kommen auch andere Herausforderungen aus der Sahelzone selbst. Sie ist ein Gefahrenherd für die Länder der Region insgesamt aber auch für Europa, wie auch die letzten Ereignisse in Niger gezeigt haben. Viele nationale bzw. regionale Regierungen sehen sich außerstande dem Vordringen radikaler islamistischer Bewegungen Einhalt zu gebieten. Oftmals mangelt es aber den ins Land gerufenen Europäern, vor allem aus den ehemaligen Kolonialländern an Wissen und Sensibilität, um mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam den Terror zurückzuschlagen. 

Nun sind vermehrt - neben der Sahelzone vor allem in Zentralafrika - russische Söldner tätig. Afrika ist damit auch zu einem Schauplatz europäischer Auseinandersetzungen geworden. Auch wenn Russland kaum die Kraft hat, eine entscheidende Rolle in Afrika zu übernehmen und Europa als wirtschaftlichen und politischen Partner generell zu verdrängen, kann es Europa schmerzhafte Nadelstiche versetzen, vor allem wenn es zu verstärkten Fluchtbewegungen kommt. 

Unabhängig von diesen Auseinandersetzungen muss Europa eine langfristig angesetzte Strategie der Partnerschaft umsetzen, die vor allem auch eine abgestimmte Klimapolitik umfasst. Afrika hat große Vorteile durch das hohe Ausmaß an Sonneneinstrahlung und zum Teil auch durch das Vorhandensein starker Winde. Dabei gilt es diese Vorteile, vor allem für die afrikanische Bevölkerung, zu nutzen. Erst in zweiter Linie können und sollen daraus auch Nutzen für die ökologische Transformation in Europa entstehen. Letztendlich kann eine erfolgreiche Klimapolitik nur eine überregionale bzw. globale sein. Innerhalb der Europäischen Union ist man hier in den letzten Jahren schon einige Schritte nach vorne gekommen und zunehmend macht sich die Erkenntnis breit, dass eine verstärkte Kooperation vor allem mit den Ländern Afrikas für eine erfolgreiche Klimapolitik notwendig ist. 

Aber noch viel mehr ist zu tun, um eine tragfähige Partnerschaft zwischen Afrika und der EU auf die Beine zu stellen. Die Rückwärtsentwicklung in manchen Ländern durch Militärputsche und autoritäre Tendenzen darf nicht zu einem Aufgeben dieser Strategie führen. Vielmehr müssen die Gutwilligen in Afrika selbst animiert werden, eine entsprechende Führung selbst zu unternehmen. Dabei muss Europa und auch seine privaten Unternehmungen verstärkt auf ökologische und soziale Interessen der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Das Ziel der Europäischen Union kann nicht sein, den Diktatoren zu hofieren, wie das oft genug in der Vergangenheit geschehen ist - und heute vor allem von chinesischer und russischer Seite geschieht. 

Globale Politik und Werte
Die wichtigste Aufgabe wird es sein, mit allen Regierungen, die dazu bereit sind, zusammen zu arbeiten, dabei aber gleichzeitig immer auf die Einhaltung der Menschenrechte zu drängen. Aus eigener Erfahrung weiß ich wie schwierig es ist, diese Balance zu halten. Im Rahmen vieler Besuche in Afrika und bei Gesprächen vor allem mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft hörte ich oft Klagen, dass die EU zu tolerant gegenüber Regierungen ist, die die Menschenrechte missachten.  Aber das ist eben die Aufgabe der europäischen Diplomatie, eine Gesprächsbasis mit den Regierenden zu erhalten bzw. herzustellen und gleichzeitig die Zivilgesellschaft zu ermuntern und zu stärken. An solch einem Pragmatismus führt kein Weg vorbei.

Ob es sich um Abkommen handelt, die zum Ziel haben, die irreguläre Migration einzudämmen, oder ob das Ziel solcher Abkommen ist, eine gemeinsame, nachhaltige Klimapolitik zu erzielen, immer sind Kompromisse notwendig. Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Westen insgesamt und insbesondere Europa an Gewicht verliert. 

Triste Zukunft?
Manche Kommentare in den Medien tragen den Titel: „Die Tage des Westens sind gezählt.“ So meinte Albrecht Koschorke in einem diesbezüglichen Beitrag in Die Zeit: „Nach dem Ende des Kalten Krieges sah es einen historischen Moment so aus, als habe das liberale Wertesystem eine Monopolstellung errungen. Inzwischen ist es um seine Akzeptanz sehr viel schlechter bestellt. Die Leitidee eines Gleichlaufs von Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Modernisierung und Mehrung des Wohlstands, die ihm eine starke Suggestivkraft verlieh, löst sich auf.“ 

Ich weiß nicht, ob Koschorke Recht hat, wenn er meint: „Der Kontinent, der noch im Kalten Krieg den Hauptschauplatz bildete, rückt an den Rand des Weltgeschehens.“ Nun die Welt bestand immer aus verschiedenen Schauplätzen und wird in Zukunft aus noch mehr Schauplätzen bestehen, die abwechselnd - meist durch Krisen und Kriege - in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Die Vorstellung, die viele im Westen/Europa von der eigenen Bedeutung hatten, wird sich zunehmend als eine Illusion erweisen. Aber für eine gerechtere und friedlichere Welt sollte gerade auch Europa Ideen entwickeln und aktiv werden. Dass die Zukunft nicht eine triste wird, dafür muss auch Europa einiges leisten, aus Verantwortung für die Welt als Ganzes aber eben auch für die eigene Bevölkerung. 

Es geht daher auch nicht um eine De-Globalisierung, sondern um eine Vernetzung zum Wohle aller und um eine gerechtere Verteilung der Ressourcen und des Wohlstands. Es wird nicht immer leicht sein der Bevölkerung Europas zu vermitteln, dass der erfolgreiche Kampf gegen die Klimaveränderungen und für den Frieden sehr stark auch von einer gerechteren Welt abhängt. Die rechtspopulistischen Kräfte leugnen genau das und versprechen Wohlstand durch Abschottung und Grenzschließungen. Die Geschichte - vor allem die Europas zwischen den beiden Weltkriegen - lehrt uns allerdings, dass Isolation zu Armut und Depression und letztendlich zum Krieg führt. Europa darf sich nicht von solchen Kräften treiben lassen, die nur ihre eigene politische Macht vor Augen haben.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.