Über die Notwendigkeit einer gezielten Migrationsstrategie

Erschienen in DERSTANDARD am 31.07.2023

Eine kritische Betrachtung der Migrationspolitik europäischer Regierungen und die Herausforderungen einer aktiv gesteuerten Zuwanderung.

Im Gastblog erklärt Europapolitiker Hannes Swoboda, warum eine Europa eine viel aktivere und gezieltere Migrationspolitik entwickeln und umsetzen muss.

In den Medien gibt es auch diesen Sommer ein durchgängiges Thema, die Migration in all ihren Schattierungen. Und dasselbe betrifft die politischen Auseinandersetzungen, die allerdings oftmals der Ablenkung von größeren Herausforderungen dienen. So stürzte in den Niederlanden die Regierung, weil sich die Koalitionsparteien nicht auf eine gemeinsame "härtere" Migrationspolitik einigen können. Die Europäische Union ringt schon seit Jahren an einer rationalen Migrationspolitik, die die Asylfrage miteinschließt. Für die rechten und vor allem rechtsextremen Parteien und Regierungen ist die Zuwanderung generell schuld an allen Übeln der heutigen Gesellschaften: von sozialen Unruhen – wie unlängst in Frankreich – bis zur drohenden Überfremdung. Und vielfach wird ein von "Linken" aktiv betriebener Bevölkerungsaustausch an die Wand gemalt.

Dem widerspricht allerdings, dass sogar die Rechten, wenn sie in Regierungsverantwortung sind und den Arbeitskräftebedarf sehen, die Tore für die Zuwanderung aufmachen. Die italienische Ministerpräsidentin hat dies kürzlich ganz klar angekündigt und entsprechende Schritte gesetzt. Der STANDARD berichtete unter dem Titel: "Regierungschefin Meloni holt eine halbe Million Migranten nach Italien" und die Frankfurter Allgemeine übertitelte ihren Beitrag mit "Italien: Schleusen auf für ausländische Arbeitskräfte".

Was die rechte Regierung in Italien laut verkündet, praktizieren die Rechten in Ungarn und Polen etwas stiller. Einerseits verteufeln sie die Vorschläge der EU-Kommission zu einer maßvollen und auf alle Länder verteilten Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Aber gleichzeitig sind auch diese Länder von einem Mangel an Arbeitskräften betroffen. Und auch sie bewerben sich um Ausländerinnen und Ausländer, die diesen Mangel beheben können. Und so stellte die New York Times ihren Beitrag über Polen unter den Titel: "Nein zu Migranten, ja zu Arbeitskräften". All dies ist jedenfalls Ausdruck einer zwiespältigen Politik, die vor allem im Fall von Viktor Orban von einer deutlichen anti-europäischen und rassistischen Musik begleitet wird.

Aktivere und gezieltere Migrationspolitik

Nun ist es verständlich, dass sich europäische Regierungen und die EU insgesamt um eine kontrollierte Zuwanderung bemühen und die unkontrollierte, illegale Zuwanderung zurückdrängen wollen. Und es geht sicherlich auch darum, durch eine gezielte Zuwanderung entsprechend ausgebildete Arbeitskräfte zu bekommen.
 
Was nun diese Herausforderungen betrifft, so müsste Europa eine viel aktivere und gezieltere Migrationspolitik entwickeln und umsetzen. Dabei muss Europa – seine politisch Verantwortlichen und Bevölkerungen – davon ausgehen, dass angesichts der nach wie vor krassen Unterschiede im Einkommen, Vermögen und in den klimatischen Lebensbedingungen die reichen Regionen immer einen Anziehungspunkt darstellen werden. Auch wenn nach wie vor die kontinentalen und nationalen Binnenwanderungen den Großteil der freiwilligen und gezwungenen Bevölkerungsbewegungen ausmachen, so bleiben die Magnetwirkungen von Europa (und Nordamerika) bestehen.

Das betrifft vorrangig Menschen, die von den Auswirkungen von Kriegen flüchten, aber in zunehmendem Ausmaß auch vor katastrophalen klimatischen Veränderungen. Verstärkte Bemühungen um Frieden aber auch um eine globale und verantwortungsvolle Klimapolitik können hier – langfristig – einiges korrigieren aber sicher nicht alle Fluchtursachen beseitigen. Dennoch, eine Stärkung multinationaler Organisationen durch die reicheren Nationen, die den betroffenen Menschen möglichst im Nahbereich ihrer gewohnten Lebensbereiche helfen können, ist dringend erforderlich.

Aber auch wirtschaftliche und soziale Gründe verleiten Menschen ihre Heimat zu verlassen. Vor allem dann, wenn sie keine Aussicht auf Verbesserungen haben. Und sie haben keine Hoffnung, wenn die Ungleichheit und Ungerechtigkeit in ihren Ländern von korrupten Regierungen nicht abgebaut, sondern vielleicht sogar verstärkt werden. Da werden die reichen Länder und an Demokratie interessierten Regierungen nur selten helfen können. Aber in dem Ausmaß, in dem sie Arbeitskräfte benötigen, die sie nicht anders bekommen können, können sie sicher diesen Menschen Angebote machen.

Humanität und Wirtschaftsinteressen

Insgesamt sollten sich die reicheren Länder – und hier vor allem die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer – durch eine humanitäre und an den wirtschaftlichen Interessen orientierten Migrationspolitik auszeichnen. Diese beiden Ansätze müssen nicht im Widerspruch zueinanderstehen. An erster Stelle sollten sie vor allem jenen helfen, die aus schierer Not heraus ihre Heimat verlassen müssen. Diesen Menschen sollte schon in – oder nahe – ihrer Heimat die Gelegenheit gegeben werden, um Asyl beziehungsweise vorübergehenden Schutz anzusuchen. Wenn er ihnen gewährt wird, sollten sie möglichst rasch in die europäische Gesellschaft beziehungsweise den Arbeitsmarkt integriert werden. So könnten schon einige offene Stellen besetzt werden. Die Erfahrungen – gerade auch in Österreich – zeigen, dass dies oft gelingt.

Notwendig für die Umsetzung einer solchen Strategie ist der Ausbau europäischer Vertretungen in den potenziellen Herkunftsländern, um die entsprechenden Asylanträge zeitgerecht bearbeiten zu können. In den europäischen Ländern selbst sind darüber hinaus vermehrte Bildungs- und Ausbildungsanstrengungen notwendig. Integration gibt es sicher nicht zum Nulltarif.

Soweit der – quantitative und qualitative – Bedarf an Arbeitskräften nicht durch die Aus- und Weiterbildung der schon in Europa befindlichen und der Schutz- und Asyl-Suchenden gedeckt werden kann, sollten zusätzliche Arbeitskräfte angeworben werden – ohne allerdings Lücken in jenen Ländern zu generieren, aus denen diese Arbeitskräfte kommen. Es macht wenig Sinn in diesen Ländern zur Unterversorgung zum Beispiel mit Ärzten, Pflegepersonal etc. beizutragen.

Transparente Migrationspolitik

Selbst eine optimal organisierte, gezielte Zuwanderungspolitik – vor allem unter Einschluss einer humanitären Flüchtlingspolitik – wird als solches nicht die Versuche, illegal nach Europa zu kommen, radikal eindämmen. Da bedarf es internationaler Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und vor allem auch den Transitländern, insbesondere in der Nachbarschaft zu Europa. Das schon länger existierende Abkommen mit der Türkei und das von der EU-Kommission ausverhandelte Abkommen mit Tunesien sind diesbezüglich Beispiele.

Ein grundsätzliches Problem ist dabei, dass viele dieser Länder keine "lupenreine Demokratien" sind. Und vor allem der derzeitige tunesische Präsident ist durch rassistische Äußerungen gegenüber schwarzafrikanischen Flüchtlingen aufgefallen. Eine humane Behandlung dieser Menschen sollte jedenfalls eine Grundvoraussetzung für solche Abkommen zwischen der EU und den Transitländern sein. Demgemäß sollten solche Übereinkünfte regelmäßig auf die Einhaltung der Menschenrechte überprüft werden. Grundsätzlich wird eine regulierte Migrationspolitik nicht ohne Rückführungen möglich sein. Aber auch diese sollten unter Einhaltung humanitärer Grundsätze erfolgen. Besonders sind dabei die Rechte und Chancen der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen.

Jegliche realistische Migrationspolitik wird nicht um – oft schmerzhafte – Kompromisse herumkommen. Auch die derzeit auf dem Tisch liegenden Vorschläge der EU-Kommission und der Mehrheit des Rates sind von solchen Kompromissen gekennzeichnet. Um so trauriger ist, dass Polen und Ungarn nicht einmal unter diesen Voraussetzungen mitmachen wollen. Sie wollen weiterhin eine Politik der gespaltenen Zunge machen, also Zuwanderung generell ablehnen und dann gleichzeitig – zum Teil ohne viel Öffentlichkeit – notwendige Arbeitskräfte ins Land holen.

Europa sollte hingegen eine transparente Migrationspolitik betreiben, die eine Politik des humanitären Schutzes mit einer Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Einklang bringt. Ich hoffe, dass der jüngst geäußerte Optimismus der Präsidentin des EU-Parlaments, dass es bald zum Beschluss und der Durchsetzung eines annehmbaren Kompromisses kommt, Wirklichkeit wird. (Hannes Swoboda, 31.7.2023)


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.