Einige persönliche Bemerkungen
Vor 15 Jahren am 17.2.2008 erklärte sich die frühere Region Serbiens zum unabhängigen Staat. Und am 22.7.2010 erklärte der Internationale Gerichtshof, der von Serbien angerufen wurde, dass die Unabhängigkeitserklärung durch den Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstoße. Aber der Weg zur allgemein anerkannten Unabhängigkeit ist noch nicht zu Ende gegangen. Da ich diesen Weg zuerst als EU-Abgeordneter und dann im Namen des IIP verfolgen konnte, will ich diesmal den keineswegs vollendeten Prozess der Staatswerdung aus persönlicher Sicht kommentieren.
Kosovo im Zerfall Jugoslawien
Es war im Februar 1997, wenige Monate nachdem ich ins EU-Parlament gewählt wurde, als ich über Belgrad kommend in den Kosovo einreiste. In Belgrad hatten wir als EU-Parlamentarier vor allem mit oppositionellen Student*innen, Gewerkschafter*innen und Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen Gespräche über deren Widerstand gegen Präsident Milosevic geführt. Noch war nicht klar, wohin sich Serbien politisch entwickeln würde - Slobodan Milosevic war noch fest im Sattel. Und noch mehr Ungewissheit bestand hinsichtlich des Kosovo.
Nach zwei Tagen in Pristina kam ich zu folgender Beurteilung in meinen „Reisenotizen“, die ich regelmäßig publizierte: „Unsere Gespräche mit den politischen Führern der Albaner, vor allem Ibrahim Rugova, und der Serben, die Besichtigung der - wahrscheinlich gefolterten - Leiche eines Albaners im Kreise seiner Familie, die Zigtausenden, die am Nachmittag am Begräbnis des jungen Mannes teilnahmen - all das hatte in mir den Eindruck verstärkt, dass der Kosovo, nach dem Abkommen von Dayton und dem „Frieden“ in Bosnien, das für Europa gefährlichste Pulverfass bleibt.“
Es war ziemlich klar, wer für die Entstehung dieses Pulverfass verantwortlich war: „Nicht zuletzt die Aufhebung bzw. Aushöhlung der Autonomie des Kosovo durch die serbische Regierung hat die Lage deutlich dramatisiert. Eine Spirale der Gewalt hat sich entwickelt, die schwer zu durchbrechen ist. Europa muss dabei helfen, einen Dialog zwischen Serben und Albanern in Gang zu setzen, für den es nur eine Vorbedingung geben kann: das Ende der Gewalt.“
Serbien verspielt eine interne Lösung
Zu diesem Zeitpunkt und noch einige Zeit danach hoffte ich auf eine Lösung innerhalb Serbiens. Aber es fehlte an einem deutlichen Schuldbekenntnis von serbischer Seite und an der Bereitschaft zu einer radikalen Kursänderung. Und im Kosovo selbst war die Stimmung eindeutig in Richtung Unabhängigkeit ausgeschlagen. Und so kam es zur einseitigen Erklärung der Unabhängigkeit seitens der politischen Verantwortlichen des Kosovo im Februar 2008. Wenige Tage davor, am 24.1. 2008 empfing ich im EU-Parlament den neuen Ministerpräsidenten des Kosovo, Hashim Thaci, und stellte fest: „Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Uneinigkeit zwischen Serben und Kosovoalbanern als die Unabhängigkeit des Kosovo unter Einhaltung strikter Schutzmaßnahmen für die serbische und die anderen Volksgruppen und deren kulturelles Erbe.“
Vielleicht hätte es eine Chance gegeben, wäre die Entwicklung in Serbien anders gelaufen. Anfang 2003 hat der serbische Ministerpräsident Zoran Djindjić Gespräche über den zukünftigen Status des Kosovo verlangt. Dabei verlangte er damals schon ein „konstitutives Element von kollektiven und nicht nur individuellen Rechten“ für die Serben im Kosovo. Aber wenige Wochen nach der Forderung von Gesprächen über die Zukunft des Kosovos wurde Djindjić ermordet.
Kurz danach besuchte ich wieder mit einer Delegation des EU-Parlaments den Kosovo und notierte in meinem Reisebericht, der jetzt als europäisches Tagebuch erschien: „Noch immer wird die Frage diskutiert, ob die Anerkennung der Selbstständigkeit des Kosovo eine richtige Entscheidung z.B. Österreichs gewesen ist. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass kein besserer Weg beschritten werden konnte. Jetzt aber geht es darum, den Menschen im Kosovo zu helfen, eine multiethnische Gesellschaft mit gegenseitigem Respekt, mit Toleranz und Solidarität aufzubauen und die Gräben der Vergangenheit hinter sich zu lassen.“
Gleichzeitig war ich auch besorgt, ob starker Tendenzen in der serbischen Politik, die die Serben aus dem Kosovo eher zum Verlassen des Kosovo aufforderten und nicht zum Verbleiben und zum Aufbau eines neuen, multiethnischen Kosovo mit Anerkennung aller Minderheiten z.B. auch der Roma. So stellte ich schon damals fest: „Vor allem betrieben sie die Abspaltung des Nordens, was die vielen Serben im Süden des Landes - und das ist die Mehrheit - noch mehr in die Minderheit bringt.“
Auch die regelmäßigen Besuche bei den Vertretern der Serbisch-Orthodoxen Kirche - vor allem im Kloster Gracanica - ergaben eine eher feindliche Einstellung zu einem gemeinsamen Kosovo. So meinte Bischof Artemije - der allerdings später selbst in der Kirche in Ungnade fiel - noch im Juni 2006 mir gegenüber schroff, dass ich nicht von der „serbischen Community“ im Kosovo reden solle. Der Kosovo ist integraler Bestandteil Serbiens. Jegliche Idee einer Unabhängigkeit solle ich mir aus dem Kopf schlagen. Die jeweils heftigen Auseinandersetzungen mit den Kirchenvertretern wurden auch nicht dadurch gemildert, dass wir schon am Morgen einen im Kloster fabrizierten Schnaps serviert bekamen.
Kosovo und Serbien haben Handlungsbedarf
Nach wie vor finden viele Diskussionen statt, aber es gibt wenig Bewegung. Noch immer kommen keine deutlichen Signale aus Belgrad zur vollen Integration der Serben in den kosovarischen Staat. Und vor allem die politischen Vertreter*innen der Serben in Norden sind nicht an einer solchen Integration interessiert. Anderseits unternimmt die von Albanern dominierte Regierung wenig, um den Serben ein Angebot zu machen, - vor allem im von ihnen mehrheitlich besiedelten Norden - eine begrenzte Autonomie zu gewähren. Sie wurde in Form eines Verbands der serbischen Gemeinden von einer früheren Regierung des Kosovo versprochen und auch in einem Abkommen mit Serbien vereinbart. (siehe dazu meinen Blog vom 12.1.2022) Und sie sollte auch jetzt endlich umgesetzt werden. Dabei ist nicht der völlige Durchbruch zur weltweiten Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo einerseits und die weitgehende Versöhnung innerhalb des Kosovo und mit Serbien zu erwarten. Es kann nur um Schritte in diese Richtung gehen. Aber einige davon sollten jetzt gesetzt werden.
Wenn ich im Titel dieses Beitrags von einem unvollendeten Kosovo spreche, dann will ich nicht die Illusion wecken, als wäre irgendein Staat vollendet. Aber bezüglich des Kosovo sind zwei entscheidende offene Fragen, die man auch als offene Wunden bezeichnen kann, zu erwähnen. Erstens haben viele Staaten, darunter auch leider fünf EU-Staaten aus fadenscheinigen, innenpolitischen Überlegungen die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt. Die Minderheitenprobleme in vier von diesen fünf Ländern nämlich Spanien, Slowakei, Rumänien und Zypern müssen unabhängig vom Kosovo gelöst bzw. betrachtet werden. (Griechenland hat seine abwartende Position nur aus Sympathie mit Zypern eingenommen.) Aber die andere Unvollständigkeit bezieht sich auf die mangelnde Strategie zur Versöhnung und zum Aufbau einer, die serbische aber auch aller anderen Minderheiten, respektierenden Gesellschaft. Und das ist vor allem die Aufgabe der „siegreichen“ albanischen Mehrheit. Aber selbstverständlich sollte die serbische Minderheit, vor allem die im Norden des Kosovo, dabei hilfreich sein.
Über all die Jahre haben sich Vertreter der EU und der USA bemüht, die beiden Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen und einen Kompromiss zu erzielen. Nicht immer waren sie mit voller Kraft geführt worden. Auch generell hat die Erweiterungsstrategie für den Westbalkan unter vielen Ermüdungserscheinungen gelitten und tut dies auch heute noch, auch wenn es jüngst neue Bemühungen gab. So ist zu hoffen, dass die deutsch-französische Initiative, die einen schrittweisen Prozess der Reformen zugunsten der Serben im Kosovo und einer de-facto Anerkennung des Kosovo durch Serbien mit Unterstützung von EU und den USA Fortschritte bringen wird.
Veranstaltungshinweis
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.