1 JAHR KRIEG: WIE KOMMEN WIR ZU FRIEDEN?

Am 24.2 startete Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, einen selbstständigen und international anerkannten Staat. In diesem Jahr wurden viele Ukrainer*innen getötet, verletzt und in die Flucht getrieben, ihre Häuser zerstört aber auch die Infrastruktur stark in Mitleidenschaft gezogen. Auch auf russischer Seite wurden Kämpfer getötet und verletzt. Aber das stört einen brutalen Machthaber wie Putin nicht, solange seine Macht nicht gefährdet ist. Der massive Ausbau der russischen Propagandamaschinerie sowie der Geheimdienstaktivitäten im Zusammenhang mit neuen Strafandrohungen hat bisher Putin vor Gefährdung seiner Position geschützt. Wenn es eine Gefahr gibt, dann eher von noch radikalen Kräften um den berüchtigten Chef der besonders brutalen Wagner-Söldnertruppe, Jevgeni Prigoschin.

Ein anderes Russland
Der bekannte russische Wissenschaftler Wladyslaw L. Inosemzew hat das „neue“ Russland, das sich unter Putin herausgebildet hat - aber doch auch ältere Wurzel hat -unlängst drastisch geschildert: „Die Verbrechen, welche die Russen in der Ukraine begehen, sind nicht so sehr auf die Befehle von Vorgesetzten zurückzuführen, sondern es drückt sich in ihnen der Wunsch aus, alle „zivilisierten“ Normen und Regeln zu übertreten, die in Russland seit Jahren gerade durch die Wiederbelebung „traditioneller“ Werte untergraben werden.“ Inosemzew weist u.a. darauf hin, dass die häusliche Gewalt durch russische Männer so stark zugenommen hat, dass sie sogar entkriminalisiert wurde, um die Gefängnisse nicht zu überlasten. Abschließend meint Inosemzew in seinem Beitrag in der NZZ vom 28.1 2023: „Russland ist kein „normales“ Land und das russische Volk kein „normales“ Volk.“ Daher muss sich der Westen „auf das Szenario einer langen und harten Konfrontation mit einem nichtwestlichen, nichtmodernen und in vieler Hinsicht irrationalen Staat vorbereiten.“

Angesichts der Größe und der Verfügung über Atomwaffen erzeugt die innenpolitische Situation Russlands unter der irrationalen politischen Führung besondere Risiken. Inosemzew selbst, aber auch andere russische Analytiker gehen davon aus, dass unabhängig vom Ausgang des Krieges, das System Putin - oder ein noch schlimmeres - Russland beherrschen wird. Und selbst ein Zerfall Russlands kann nicht gerade optimistisch gesehen werden, ist doch dann erst recht ungewiss, wer die Verfügungsgewalt über die Atomwaffen erhalten wird. Es geht also nicht darum, sich von Putin erpressen zu lassen, sondern darum, Gefahren und Risken, die von einem solchen Regime und System ausgehen, abzuschätzen und in Kalkulationen über ein - hoffentlich gewünschtes - Ende des Krieges einzubringen.

Patt muss zum Frieden führen
Was nun die Einschätzungen über den weiteren Verlauf und ein mögliches Ende des Krieges angeht, so ist der Sieg einer der beiden Kriegsparteien derzeit nicht absehbar. Der vor einiger Zeit verbreitete Optimismus der Ukrainer ist einer realistischeren Einschätzung gewichen. Die Lieferung von Kampfpanzern wird helfen, aber keinen entscheidenden Ausschlag geben. Und die Lieferung von Kampfflugzeugen könnte eine gefährliche Eskalation mit sich bringen, vor der - zumindest derzeit - der Westen noch zurückschreckt. Und bei solchen Lieferungen stellt sich überdies die Frage, ob bzw. ab wann dann - die solches Gerät liefernden - Länder zu Kriegsteilnehmern werden. Aber die Vorstellung mancher - vor allem deutscher - Intellektueller, dass ohne Waffenlieferungen an die Ukraine der Krieg bald zu Ende wäre ist naiv. Vielleicht wäre er bald zu Ende, aber es gebe keine Ukraine mehr. 


Wenn der Westen weiterhin die Ukraine als Staat und Gesellschaft bewahren möchte, so muss die Ukraine weiter darin unterstützt werden, sich gegen die russische Aggression zu wehren und so viel Territorium zurückzugewinnen wie möglich bzw. wie es die Anzahl der Opfer rechtfertigt. Aber parallel dazu sollten die Möglichkeit, dem Krieg - zumindest durch einen Waffenstillstand - ein Ende zu bereiten, ausgelotet werden. Dazu hat unlängst der deutsche Völkerrechtler Ulrich Fastenrath in der FAZ vom 9.2.2023 einige interessante Vorschläge gemacht:

UNO müsste handeln
Die UNO-Vollversammlung hat ja durch etliche Beschlüsse die völkerrechtswidrige Aggression Russlands verurteilt. Sie sollte es aber nicht dabei belassen, sondern „eine juristische Expertenkommission einsetzen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht prüft.“ So könnte das Fehlverhalten - der beiden Seiten - festgestellt werden und der UNO-Vollversammlung berichtet werden. Des weiteren sollte eine politisch besetzte Kommission eingesetzt werden, die auch noch während der Kampfhandlungen Verständigungen zwischen den Konfliktparteien - zum Beispiel hinsichtlich des Gefangenaustauschs - herbeiführen könnte. Überdies sollte auch die OSZE wieder aktiv werden, um allgemeine Fragen der Abrüstung und der Rüstungskontrolle neuerlich aufs Tapet zu bringen. 

Ich meine auch, dass die unterschiedlich „neutral“ gebliebenen Länder wie Indien, Brasilien, Südafrika eine Verantwortung haben zum Kriegsende beizutragen. Sie könnten sogar ihre globale politische Rolle stärken, indem sie international aktiv werden. Das könnte in einer der oben angeführten Kommissionen der UNO und/oder auch außerhalb der UNO passieren. Jedenfalls sollte der UNO-Generalsekretär darauf drängen, dass internationales Recht eingehalten wird und dennoch dem Krieg ein Ende bereitet wird. 

 

Wirksame Initiativen können realistischerweise nur von außerhalb der unmittelbaren Konfliktparteien oder deren Unterstützer kommen. Man kann mit Recht Südafrika kritisieren, dass es gerade zum Jahrestag der russischen Invasion gemeinsam mit Russland Manöver abhält. Und man kann Indien kritisieren, dass es als Gewinner aus dem Ölembargo aussteigt. Aber entscheidend wäre, diese Länder dazu bewegen, Russland zu mäßigen und einen Waffenstillstand zu erreichen. Sie sollten ja auch ein großes Interesse haben, dass sich die Welt wieder mit den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Problemen des „globalen Südens“ beschäftigt. Grundlage des Engagements der neutralen Staaten sollten aber in allen Fällen die eindeutigen Beschlüsse der UNO-Vollversammlung sein. 

Einen langen Krieg vermeiden
Auch eine ausführliche Studie der US-amerikanischen RAND-Cooperation beschäftigte sich unlängst unter dem Titel „Avoiding a Long War“ mit den Möglichkeiten, zu einem Ende des Krieges zu kommen. Wenn man davon ausgeht, dass dieser Krieg für Putin - und auch - infolge der russischen Propaganda - für die Mehrheit der Russen als „existenziell“ betrachtet wird, dann wird Russland eine eindeutige Niederlage nicht akzeptieren. Je länger der Krieg dauert, steigt aber auch die Gefahr einer Auseinandersetzung mit der NATO bzw. der Einsatz von taktischen Atomwaffen durch Russland. Beides sollte unbedingt vermieden werden. Aus diesem Grund plädieren die Autor*innen für die Suche nach einem Waffenstillstand bzw. längerfristig nach einer Friedenslösung. Und sie machen auch klar, dass auf Grund der massiven Unterstützung durch die USA (und das gilt auch für Europa) und angesichts der globalen Gefahren, nicht nur die Ukraine bzw. Präsident Zelensky über Krieg und Frieden entscheiden dürfen. Es ist auch eine Entscheidung, an der der Westen teilhaben muss. Im Übrigen ist die Ukraine mehr als ihr gegenwärtiger Präsident - bei all seinen Meriten - und dies wird vor allem nach dem Krieg sichtbar werden. 

Immer mehr müssen wir davon ausgehen, dass wir auch weiterhin mit einem revisionistischen, nationalistischen und innenpolitisch reaktionären Russland leben müssen - jedenfalls auf absehbare Zeit. Schon aus diesem Grund müssen wir die Nachbarländer Russlands - soweit sie das wünschen - unterstützen. Das gilt vor allem für die Ukraine, aber nicht nur sie. Das können die NATO und/oder einzelne NATO-Staaten militärisch machen. Die Europäische Union kann dies politisch und wirtschaftlich tun. Allerdings sollte sie dabei nicht auf die lange versprochene Integration der Länder des Westlichen Balkans vergessen. 

Es muss für alle europäischen Länder ein Mehr an kollektiver Sicherheit geben. Und da wird auch Europa einen größeren Beitrag dazu leisten müssen. Leider hat der Krieg vieles verändert. Der Traum von einem gemeinsamen Haus Europa - von Lissabon bis Wladiwostok - ist ausgeträumt. Spannungen mit Russland werden auch weiterhin bestehen bleiben. Darauf müssen wir uns vorbereiten, auch um einen weiteren Krieg durch ein geschlagenes und revisionistisches Russland zu verhindern.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.