OFFENE WUNDEN - BLUTEN IMMER WIEDER ...

…. und das haben Nagorno Karabach, Kosovo und Gaza gemeinsam

In der letzten Zeit wurde die Weltöffentlichkeit von furchtbaren Entwicklungen überrascht, obwohl sie absehbar waren. Immer wieder glauben wir Konflikte einfrieren zu können, um sie einer späteren Lösung zuzuführen. Allerdings kaum sind sie eingefroren wird auf Lösungsanstrengungen vergessen oder sie werden nur halbherzig verfolgt. Und dann wundern sich Politiker*innen und Medien, dass die Konflikte von damals wieder ausbrechen, die Wunden neuerlich aufbrechen. Weder die Rückeroberung von Nagorno Karabach, noch die jüngst aufflammenden Konflikte im Kosovo, noch die abscheulichen Attacken der Hamas konnten ernst zu nehmende politische Beobachter überraschen. Nur das Ausmaß der neuerlich aufgebrochenen Konflikte konnte überraschen.

Nagorno Karabach
Über Jahrzehnte hat Armenien die Region Nagorno Karabach, in der hauptsächlich Armenier lebten, die aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörte, besetzt. Aber Armenien besetzte auch angrenzende Gebiete in Aserbaidschan, von wo in der Folge die aserbaidschanische Bevölkerung vertrieben wurde bzw. floh. Es hat immer wieder Gespräche über die Lösung des Konflikts, vor allem in Moskau, gegeben, aber es kam zu keinem Übereinkommen. Armenien vertraute auf die Hilfe des russischen Verbündeten. Auf der anderen Seite stand Aserbaidschan, das nicht nur in der Türkei einen starken Verbündeten hatte, sondern seine Einnahmen aus Öl und Gasverkäufen in die Aufrüstung seiner Armee steckte. Es nützte dann die Konzentration Russlands auf seinen Krieg gegen die Ukraine, um Nagorno Karabach wieder in sein Territorium einzugliedern. 

Es konnte keine ernst zu nehmenden politischen Beobachter geben, die davon überrascht waren. Und ebenso konnte es überraschen, dass all jene Staaten, die die Besetzung des völkerrechtlich eindeutig zu Aserbaidschan gehörenden Territoriums geduldet haben, keine wirkliche Vermittlerrolle einnehmen konnten. Schlimm allerdings war, wie Aserbaidschan die Situation ausgenützt hat, um zu erreichen, dass der Großteil der Armenier Nagorno Karabach verließ. Und so ist kaum zu erwarten, dass diese Wunden im Verhältnis zwischen diesen beiden, miteinander verzahnten, Nachbarländern heilen. 
(siehe dazu den Standard Blog von Stephanie Fenkart: Wie Österreich einen Kompromiss in Bergkarabach vorantreiben könnte) 

Kosovo
Auch der Kosovo ist eine offene Wunde. Jedem realistisch denkenden Menschen ist klar, dass der Kosovo nicht mehr ein Teil Serbiens werden wird. Die albanische Mehrheit im Kosovo würde Serbien nur Probleme und hohe Kosten verschaffen. Anderseits kann die Geschichte nicht einfach vergessen werden. Der Kosovo war nun lange Zeit ein Teil Serbiens und war mit seiner Entwicklung eng verbunden. Die jüngere Geschichte der Unterdrückung der albanischen Mehrheit durch die serbischen Machthaber, insbesondere durch Slobodan Milosevic wiegt schwer, aber es gibt eben auch die lange serbische Geschichte mit ihren Wurzeln im Kosovo. 

All das sollte in einem demokratischen Kosovo mit einer europäischen Ausrichtung kein Problem sein. Aber dabei ist es für den inneren Frieden des Kosovo notwendig, dass dieser nicht nur die individuellen staatsbürgerlichen Rechte aller Bewohner, sondern auch die besonderen kulturellen und gesellschaftlichen Rechte der serbischen Minderheit anerkennt. Und auf der anderen Seite sollte Serbien die Fakten anerkennen und die serbische Bevölkerung des Kosovo zu einer Mitarbeit in den Institutionen des Kosovo bewegen und nicht umgekehrt sie in der Opposition zu den kosovarischen Behörden bestärken. Ohne ein solches aufeinander zugehen werden immer wieder radikale Kräfte versuchen Unruhe zu stiften. Und Menschen werden Opfer dieser Aggressionen werden, wie zuletzt Ende September dieses Jahres.

Israel und Palästina
Die jüngsten Angriffe der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung waren besonders grausam und verabscheuungswürdig. Die Hamas zeigte durch diesen Angriff ihr terroristisches und zynisches Gesicht. Und dennoch war nicht die Tatsache, dass die Hamas - wieder einmal - Raketen nach Israel abschickte überraschend, sondern die Grausamkeit, mit der sie auch gegen die Zivilbevölkerung vorging. Wie konnte es dazu kommen? 

Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Dave Weissglass, dem Bürochef und Sicherheitsberater von Premierminister Sharon, als dieser den Abzug israelischer Siedler aus dem Gazastreifen vorbereitete. Auf das Argument, dass ein einseitiger Abzug ohne Verhandlungen mit politischen Vertretern keine Lösung bringen würde, entgegnete er, die Europäer sollten sich nicht einmischen, wenn Israel genau das tut, was Europa immer wollte, nämlich die Siedlungsgebiete in Gaza zu räumen. Aber es hat sich seit der Räumung 2005 gezeigt, dass einseitige Maßnahmen ohne Gespräche mit und Anerkennung von palästinensischen Vertretern keine Lösung bringen. 

Die Rolle von Netanyahu
Viele israelische Autor*innen verwiesen in den letzten Tagen mit Recht auf die Schwächung der israelischen Abwehrbereitschaft durch die nationalistische und reaktionäre Politik insbesondere durch Premierminister Netanyahu. So meint der bekannteste unter ihnen, David Grossman, dass durch Netanyahu das Land „zugunsten engstirniger Interessen, zugunsten einer zynischen, schlafwandlerischen unvernünftigen Politik“ preisgegeben wurde. Und Yishai Sarid meint: „Netanyahu trägt die Schuld dafür, dass unsere Gesellschaft so tief gespalten ist. Das hat uns geschwächt. Sie haben uns unvorbereitet erwischt. Viele Israelis mussten deshalb sterben.“ 

Und dann erwähnt Sarid etwas, auf das Thomas L. Friedman in der New York Times verwies und das ich selbst immer wieder feststellen konnte. „Netanyahu hat seit Jahren lieber Deals mit der Hamas gemacht als mit der viel moderateren Palästinensischen Autonomiebehörde.“ Und Friedman weist zurecht darauf hin, dass die Palästinensische Autonomiebehörde zwar benutzt wurde, um mit den Sicherheitsbehörden Israels zusammenarbeiten, aber immer wieder von israelischer Seite diskreditiert wurde. Nun stimmt es, dass die Führung dieser Behörde überaltert ist und selbst immer weniger von den jungen Palästinensern akzeptiert und respektiert wird. Aber dies hängt auch mit der Diskreditierung und Schwächung, vor allem durch Netanyahu - und auch etlicher seiner Vorgänger -, zusammen. Und so blieb Gaza, wie es ein anderer israelische Schriftsteller, Ron Segal, dieser Tage definierte „das größte Gefängnis unter freiem Himmel im Nahen Osten, eine Brutstätte des Terrorismus“.

Was kann das Militär erreichen?
Dies ändert nichts an dem völlig inakzeptablen und menschenverachtenden Angriff auf Israels Bevölkerung. Und ich stimme dem amerikanischen Außenminister zu, wenn er Israel nicht nur das Recht auf eine starke militärische Reaktion zubilligt, sondern auch von einer Pflicht dazu spricht. Und dennoch haben jene Recht, die wie Thomas L. Friedman meinen, Israel muss gerade jetzt „smart“ vorgehen und darf nicht in die Falle der Hamas tappen. Es sollte eben nicht das tun, was der Hamas zu weiteren Sympathien bei den Palästinensern verhelfen würde. So schwierig es für Israel ist, einen solchen Weg zu gehen, so notwendig wäre es für Israel sich „auf eine Lösung zu konzentrieren statt auf Rache“ (Ron Segal). Wie die militärischen Interventionen in Afghanistan und Irak zeigen, sind sie alleine nicht fähig politische Konflikte zu lösen. Überdies sind diese militärischen Aktionen langwierig und meist mit vielen zivilen Opfern verbunden. Politische Lösungen müssen parallel zu militärischen entwickelt werden und zunehmend an Bedeutung gewinnen. 

Sicher ist auch schon in der Vergangenheit einiges versucht worden. Der letzte Hoffnungsschimmer war nach den Gesprächen zwischen Ehud Barack und Yasir Arafat 2000 am politischen Himmel erschienen. Aber da war es Arafat, der nicht den Mut aufbrachte dem Abkommen zuzustimmen. Mein Eindruck nach meinen Treffen mit ihm war, dass er nicht die staatsmännische Statur aufbrachte, um einen Kompromiss einzugehen, der allerdings sehr schmerzhaft war. Und als ich Barack auf einem Treffen der Sozialistischen Internationale nach neuen Initiativen fragte, antwortete er nur resigniert und frustriert, dass er in Arafat keinen verantwortungsvollen Partner sieht. Und seither gab es keine ernsthaften Versuche zu einem Frieden zu kommen. Im Gegenteil, die Ausdehnung der israelischen Siedlungen schränkte die Möglichkeiten einer Zwei-Staaten-Lösung immer mehr ein. 

Nichts könnten sich die friedliebenden Kräfte im Nahen Osten - und darüber hinaus - mehr wünschen als ein vernichtender Schlag gegen die Hamas. Es wäre auch eine Niederlage der aggressiven Kräfte im Iran und der Hizbollah im Libanon. Aber damit sind die Probleme der Bevölkerung in Gaza noch nicht gelöst. Neue militante Kräfte werden heranwachsen, solange Gaza das „größte Gefängnis unter freiem Himmel“ bleibt. Es muss ein Weg gefunden werden wie eine „Regierung“ in Gaza installiert werden kann, die sowohl das Vertrauen der Bevölkerung, aber auch in Israel einen Partner für Friedensgespräche hat.

In den letzten Tagen wurde diesbezüglich auch überlegt, Ägypten und Saudi Arabien dazu zu bewegen eine Mitverantwortung für eine neue Regierung im Gazastreifen zu übernehmen. Natürlich müsste eine solche „Regierung“ eng mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zusammenarbeiten, soweit diese nicht ohnedies eine Gesamtverantwortung übernehmen kann. Voraussetzung ist aber immer eine israelische Regierung die auch ihrer Verantwortung und ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird. 

Und der Westen? 
Man kann dem Westen nicht vorwerfen, dass er sich überhaupt nicht um eine Lösung des Konflikts bemüht hat. Aber die USA haben meist sehr zurückhalten reagiert, obwohl auch die jüdische Gemeinde in den USA zunehmend unzufrieden mit Netanyahu wurde. Und Israel zieht immer noch die USA gegenüber Europa als Gesprächspartner vor. Der über Jahrhunderte entwickelte christliche Antisemitismus, sowie viele Pogrome im Laufe der europäischen Geschichte und zuletzt der Holocaust haben den Einfluss Europas auf diese israelische Politik nie zu groß werden lassen. 

Die Bevorzugung der USA durch Israel hat letztendlich auch die Palästinenser - vertreten durch die Autonomiebehörde - veranlasst auf die Karte der USA zu setzen, jedenfalls, bis Donald Trump auf der politischen Bühne erschien. Dieser vertrat eine Politik, die drauf abzielte, die Beziehungen der arabischen Länder zu Israel zu verbessern - ohne die Interessen der Palästinenser zu berücksichtigen. Diese Verbesserungen und die angekündigte Aufnahme von Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien hat vielleicht sogar die Vorbereitungen der Hamas zu ihrem terroristischen Anschlag noch beschleunigt. So kann der Anschlag der Hamas auch als Sieg über die zögerliche und unzureichende Nah-Ost Politik des Westens interpretiert werden. Auch daraus sollte zumindest Europa lernen. Die immer wieder vom offiziellen Israel vorgebrachte Meinung, dass der Palästina Konflikt an Bedeutung verloren hat, hat sich jedenfalls als Trugschluss erwiesen - leider. 

Besteht Hoffnung auf einen Weg zum Frieden? Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev meinte dazu: „Ich bete darum, dass sich bei Kriegsende die einzige Teilung abzeichnet, die in dieser Region möglich ist, keine Teilung zwischen Arabern und Juden, sondern zwischen Moderaten und Extremen, zwischen Pragmatikern und Fanatikern. Hoffentlich gelingt ein Zusammenleben all derer, die das Leben wählen und deswegen einen Kompromiss anstreben. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen, aber womit sonst wollen wir uns trösten?“ Leider sind es allzu viele Krisen, für die wir diese Hoffnung haben müssen.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.