DER RUSSLAND - UKRAINE KRIEG UND EIN NEUER KULTURKAMPF

Jeder Konflikt und erst recht jeder Krieg hat auch seine kulturelle und vor allem literarische Dimension. Das gilt sicherlich auch für die Invasion der Ukraine durch Russland. Einerseits steht dahinter der auch kulturelle Anspruch Russlands - aggressiv vertreten durch seinen Präsidenten Putin - an ein Volk, das sie als Kleinrussen bezeichnen. Da kann man die kleinrussischen Schwestern und Brüder auch bombardieren, wenn sie sich nicht freiwillig unterwerfen. Der weißrussische Diktator hat sich lange gewehrt aber vor die Entscheidung zwischen Demokratisierung und Unterwerfung gestellt, hat er sich für Letzteres entschieden. Das kurzfristige Ziel Putins ist sicher die Wiederherstellung des gemeinsamen aber unter seiner Oberhoheit stehenden Reiches von Russen, Weißrussen und Kleinrussen. 

Auf der anderen Seite steht die Ukraine, die sich mehr als je zuvor zur Europäischen Union bekennt. Und ihr wird tatkräftig vom Westen geholfen. Sie wird wirtschaftlich und militärisch unterstützt, dient aber auch als gesellschaftliches und kulturelles Bollwerk gegen den russischen Einfall. Einige der Ukrainer - angefangen von Präsident Zelensky werden als Helden verehrt - und Zelensky selbst erklärt einige noch lebende oder schon gefallene Ukrainer zu Helden und zeichnet sie mit Medaillen aus. In diesem Sinn kommen Stimmen aus der Ukraine, die eine unbedingte Gegnerschaft gegen „die Russen“ schlechthin einfordern. Und auch im Westen selbst gibt es offizielle und inoffizielle Stimmen, die alle Menschen in Russland und auch vergangene und aktuelle Kulturschaffende unter Generalverdacht stellen. Solche Stimmen sind vor allem in Polen deutlich zu vernehmen und passen gut in das Bild einer polnischen Regierung, die eine nationalistische und grundsätzlich anti-russische Politik vertreten. Interessant ist, dass die offizielle polnische Gesellschafts- und Kulturpolitik sich eher gegen die westlichen Werte richtet. Die Einschränkungen der Medienfreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz sowie die religiös untermauerte anti-liberale Haltung was sexuelle Freiheiten betrifft, ist eher mit der heutigen russischen Einstellung verwandt als mit den westlichen Werten und den Grundsätzen der Europäischen Grundrechtscharta.

Übergeordnete Ziele der russischen Aggression 

 Es ist ziemlich offensichtlich: Dem russischen Präsidenten Putin geht es bei weitem nicht nur um die Ukraine - und vielleicht Moldawien und Georgien - es ist ein Krieg gegen die globale Ordnung, die durch den Westen gestaltet wurde. Die Aggression geht natürlich primär gegen den vor allem militärisch mächtigsten Teil des Westens, gegen die USA. Aber es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem post-nationalen Projekt Europas mit seinen überwiegend liberalen gesellschaftlichen Strukturen und Haltungen. 

Der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew meinte in der NZZ unlängst, dass „der heutige Kampf zwischen der Ukraine und Russland …ein Kampf zwischen dem Europa von heute (oder morgen) und dem Europa von gestern“ ist. „Russland flieht vor seiner Gegenwart, nicht vorwärts, sondern rückwärts.“ 

Die in Wien tätige Wissenschaftlerin Anna Schor-Tschudnowskaja formulierte es ebenfalls in der NZZ so: „Nicht mit Hoffnung und Utopie, sondern mit Enttäuschung und Nostalgie lässt sich die Macht zementieren.“ In dieser Auseinandersetzung hat Putin jedenfalls in der Führung der russisch-orthodoxen Kirche einen engen Verbündeten. Auch sie vertritt die autoritäre Vergangenheit gegenüber einer liberalen Zukunft. 

Was mich in diesem Zusammenhang wundert ist, dass viele im Westen, die die liberalen Werte vertreten - gerade auch Kulturschaffende - meinen, mit der Abtretung eines Teils der Ukraine an Russland wäre der Konflikt aus der Welt zu schaffen. Wir sollten nicht vergessen, auch Adolf Hitler - und hier geht es nicht um einen Vergleich der Personen - hat damit begonnen, die Deutschen heim ins Reich zu holen. Aber das war ja nur der Beginn einer brutalen Expansionspolitik.

Die Wurzeln der Putinschen Politik 

Grundsätzlich kommt die imperiale Haltung Russlands nicht erst mit Putin zum Vorschein. Die Beherrschung der Ukraine war schon in der Vergangenheit oftmals mit dem Verbot des Gebrauchs der eigenen Sprache und einer besonderen Unterdrückung verbunden, die auch zum Holodomor während der Stalinzeit, also dem Aushungern eines Teils der Bevölkerung führte. Liegt aber diese aggressive imperiale Haltung, wie sie im Angriffskrieg gegen die Ukraine schreckliche Realität wurde, in den russischen Genen? Und hat die russische Literatur immer schon diese Haltung zum Ausdruck gebracht? 

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko meinte unlängst in der NZZ dazu, dass es an der Zeit sei, „die russische Literatur unter einem anderen Blickwinkel zu lesen, denn sie hat fleißig an dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpft“. Und dem Westen wirft sie vor, dass er die russische Literatur „noch immer für europäisch und humanistisch hält“. Man sollte lieber zugeben, dass diese Literatur vom gleichen Fleisch und Blut ist wie die ganze übrige Gesellschaft, für die diese Literatur geschrieben wurde.” 

Daraus muss man schließen, dass der Kontakt zu Russen schlechthin auch und gerade auch zu Kulturschaffenden nicht nur keinen Sinn macht, sondern genauso schädlich ist wie Gespräche mit Putin. Dem widerspricht vehement die in Odessa geborene Autorin Irina Kilimnik in Die Presse.  Sie meint, dass „doch gerade jetzt der Gesprächsfaden zwischen West und Ost nicht abreißen sollte…..Eine ganze Kultur, inklusive der russischen Expatriates, wird für die Invasion verantwortlich gemacht, als ob ein direkter Weg von Pushkin zu Putin führe.“

Und die russische Verlegerin Irina Prochorowa warnt in der FAZ vor dieser Cancel Culture: „Wenn ausländische Bildungseinrichtungen mit russischen Geisteswissenschaftlern nicht mehr zusammenarbeiten, hilft das nur dem Regime……Ich möchte daran erinnern, dass in Russland die Kultur immer die wichtigste Plattform des Widerstands gegen staatliche Gewalt war und bleibt.“

Und die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv wendet sich in der FAZ ebenfalls gegen Generalsanktionen der russischen Kultur. Sie kritisiert entspreche Empfehlungen der polnischen und der ukrainischen Regierungen. Sie selbst sieht sich genau auf der Frontlinie zweier Weltanschauungen stehen: „hier die europäische Idee von Kunstfreiheit, die analytisch zwischen Kunstwerken und der Verantwortung für Kriegsverbrechen zu trennen vermag und gesetzlich durch die Verfassung geschützt ist, dort die starke Bewegung aus der Ukraine und Polen für einen Pauschalboykott russischer Kultur oder zumindest für eine „Pause“, von der niemand sagt, wie lang sie dauern soll.“

Ein Generalverdacht gegen Russland? 

Ich meine doch, dass das europäische Prinzip der Freiheit der Kunst eine übergeordnete Bedeutung hat. Die Russen schlechthin unter Generalverdacht zu stellen, macht genauso blind für die unterschiedlichen Haltungen in Russland selbst und die Möglichkeiten diesen Krieg zu beenden. Wir müssen uns überdies in Acht nehmen vor dem Hass, den Russland durch sein brutales Vorgehen erzeugt. Dazu meint der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimov in der NZZ: „Ich denke, dass Hass eine angenehme, aber irreführende Sache ist, insbesondere Hass während eines Krieges…..Ich glaube, wenn man sich dem Hass hingibt, sieht man die Wahrheit nicht mehr, sieht man das echte Netz über dem Kopf nicht mehr.“

Sicher gibt es spezielle Charakteristika des Russischen Volkes die kulturell bedingt sind. So meint Gerasimov, dass der durchschnittliche Russe die Freiheit weniger liebt und braucht als ein durchschnittlicher Ukrainer. Für ihn ist das ein Phänomen, das durch die zwei Jahrzehnte zunehmende Unterdrückung verursacht wurde und nicht auf eine natürliche Veranlagung der Russen zurückzuführen ist.

Die russische Autorin Alissa Ganijeva meint in Die Presse diesbezüglich: „In Russland leben wir eine Kultur der Lüge. Wir halten Europa für einen moralischen Sumpf, schicken aber unsere Kinder hin, damit sie dort studieren und leben. Wir sagen, dass Russland niemals ein Land zuerst angegriffen hat, als hätte es Syrien, Tschetschenien, Afghanistan, die Tschechoslowakei, Finnland, Polen usw. nie gegeben….Wir tun so, als hätten wir ein echtes Parlament, eine freie Presse, unabhängige Gerichte und sogar einen Ombudsmann für Menschenrechte.“ 

Konnte man die Aggression vorhersehen?

Die Frage, die man sich allerdings mit Recht stellen kann und sogar muss, ist die, ob man nicht schon aus vielen Äußerungen von Putin und dem Abbau der Demokratie und vor allem der Meinungsfreiheit auf die Vorbereitung auf einen Angriffskrieg schließen hätte müssen. Und hätte der Westen nicht spätestens nach der Annexion der Krim und der hybriden Kriegsführung im Osten der Ukraine schärfer reagieren sollen? Aber unter anderem war vor allem Europa noch nicht bereit von seiner nach 1945 entwickelten Politik der unbedingt gewaltlosen Konfliktbeilegung abzugehen. 

Und das hat Putin ausgenützt. Genauso wie die allgemein und nicht nur von Deutschland praktizierte Politik „Wandel durch Handel“ insbesondere bezüglich Gas und Öl. Die hat aber Russland dazu verholfen das oligarchische System aufzubauen und zu festigen. Der Ausbau und die Etablierung dieses oligarchischen Systems entsprechen auch der autoritären Führung durch Putin viel mehr als es je die Transformation in Richtung einer modernen und sozialen Marktwirtschaft könnte. 

 

Wir müssen auch aus dem „Versagen“ Kriege, wie jetzt in der Ukraine aber auch im ehemaligen Jugoslawien, nicht vorauszusehen lernen. Das Projekt Cassandra versucht genau das anhand der Analysen der Literatur im weitest gefassten Sinn. So meint einer der Projektleiter, Jürgen Wertheimer von der Universität Tübingen: „Die Literatur ist das Simulationsmedium schlechthin. Man spielt den Ernstfall durch, hautnah doch - noch - folgenlos.“ Und es geht darum: Stimmungen zu ergründen, Verdecktes zu enthüllen, nach Spuren zu suchen, Strukturen zu erkennen…Richtig gelesen machen solche Texte erkennbar, wohin der Weg führen könnte.“ Aber natürlich bleibt noch immer eine Ungewissheit, ob es auch tatsächlich dazu kommt. 

Die Europäische Union und Russland

Jedenfalls, angesichts der politischen Verhältnisse die Putin geschaffen hat und repräsentiert, ist es sicher schwierig eine Gesprächsbasis mit „den Russen“ zu finden. Langjährige unterschiedliche kulturelle Entwicklungen, viele Jahre bzw. Jahrzehnte der Unterdrückung und der Fake News haben ihre Spuren hinterlassen. Allein die Bezeichnung der ukrainischen Führung als Nazis, um daraus die Notwendigkeit einer Entnazifizierung durch Russland zu rechtfertigen, ist grotesk. Aber inzwischen wurden auch Kulturschaffende in Schweden wie Astrid Lindgren und Ingmar Bergman einfach zu Nazis erklärt. 

 

Die massive Propaganda hat vor allem bewirkt, dass Putin’s aggressive Politik eine weitgehende Zustimmung im eigenen Land erfährt. Aber weder ein Generalverdacht gegen die Russen schlechthin noch die Pflege des Hasses gegen die Russen und die russische Sprache und Literatur können darüber hinwegtäuschen, dass, wie es der Anfangs zitierte Prof. Inosemzew ausdrückt, „Russland und Europa - trotz allem ein Haus“ bewohnen. 

Deshalb ist es notwendig Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch in die Schranken zu verweisen - Putin ist ja nicht bereit zu einer friedlichen Lösung. Aber gleichzeitig muss mit all jenen Kontakt aufgenommen und geredet werden, die sich ein anderes Russland vorstellen können, ein Russland, dass nicht auf seine kulturellen Eigenheiten verzichtet aber ohne imperiale Überheblichkeit an einem gemeinsamen Haus Europa mitbauen möchte. Dazu muss aber auch das Europa der Europäischen Union - und der Staaten, die dazugehören möchten - bereit sein. 

Und dazu gehört den Hass zwischen Völkern nicht zuzulassen und einen gesteigerten Nationalismus immer wieder zu hinterfragen. Dass der Krieg gegen die Ukraine zu einem solchen starken bis extremen Nationalismus führt, ist verständlich. Aber der Historiker Dan Diner hat unlängst in der SZ zu Recht darauf verwiesen, dass der „aktuelle Umsturz historischer Bilder“ nicht zu einer Verleugnung von historischen Ereignissen führte darf. Russland deutet den „Großen Vaterländischen Krieg“ zu einem rein russischen um. Und in der Ukraine sehen wir „sich verengende Konturen eines Kulturkampfes“, vor allem auch hinsichtlich der russischen Sprache, „deren universale, kosmopolitische Bedeutung zurücktritt.“ Insbesondere gilt es alle vielschichtigen Elemente und Ambivalenzen der ukrainisch-jüdischen Geschichte nicht zu unterdrücken. 

Bei aller Unterstützung der Ukraine in der Auseinandersetzung mit Russland, muss die Europäische Union an ihren Grund- und Freiheitsrechten festhalten. Sie muss sie im Inneren - aktuell vor allem gegenüber den Regierungen in Polen und Ungarn - und auch in Gesprächen mit potenziell neuen Mitgliedern ohne Kompromisse vertreten. Was die Europäische Union darüber hinaus vermeiden muss, ist in eine Friedenspartei und eine Gerechtigkeitspartei gespalten zu werden, wie es Ivan Krastev kürzlich in der FT formuliert hat. 

 

Gerecht wäre es demnach alles zu unternehmen, um Russland zu besiegen und Putin zu Fall zu bringen. Aber kann eine solche Zielsetzung überhaupt verwirklicht werden und kann sie zum Frieden führen? Und auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob ein Ende des Krieges um jeden Preis überhaupt zu einem längerfristigen Frieden führen kann. Wäre das nicht eine Einladung an Putin bald die nächsten Schritte seiner Expansionspolitik zu setzen? Der Westen und vor allem die EU müssen da eine schwierige Gratwanderung unternehmen. Und sicher wird es - jedenfalls in absehbarerer Zeit - keine befriedigende Lösung geben. 

 

Die europäische Zeitenwende

Bundeskanzler Olaf Scholz hat für Deutschland eine Zeitenwende ausgerufen. Manche verstehen darunter eine Wende hin zur Militarisierung der Europäischen Union und der einzelnen Mitgliedstaaten. Für manche ist dabei eine umfassende Neuausrichtung der Politik gegenüber Russland entscheidend. Dabei kann man auf die der EU eigenen gesellschaftlichen Grundsätze und Werte vergessen. Die polnische Regierung ist sichtbar bemüht, ihre Verletzung dieser Werte durch Unterstützung der Ukraine und einen Kulturkampf gegen Russland vergessen zu machen. Ungarn bleibt bei seiner Putin-freundlichen Politik, aber sieht sich solidarisch mit Polen was die Verletzung europäischer Grundsätze betrifft. Und was kulturelle- und Medienfreiheiten betrifft so steht Orban Putin ohnedies näher als dem Westen.

 

Die EU muss sich aber hüten eine zusätzliche Identität aus der Gegnerschaft zu Russland zu gewinnen oder diese gar zu einer wesentlichen Stütze der Gemeinsamkeit zu machen. Was wir an Russland ablehnen ist die außenpolitische Aggression und die interne Unterdrückung der verschiedenen Freiheiten. Wir müssen uns mit all jenen solidarisch erklären, die unter dieser Politik leiden - in der Ukraine aber auch in Russland selbst. In diesem Sinn heißt Zeitenwende eine klarere Verteidigung liberaler Werte über alle internen und externen Grenzen hinweg.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.