Erschienen am 14.03.2022 im DERSTANDARD
Die EU sollte ihre Verteidigungspolitik stärker koordinieren, um ihre Interessen abzusichern, aber sich nicht zu einem Militärbündnis entwickeln
Österreichs Neutralität steht wieder zur Diskussion. Die russische Invasion der Ukraine hat viele auf den Plan gerufen, die Neutralität infrage zu stellen und einen raschen Nato-Beitritt zu fordern. Österreichs Neutralität war zwar eine grundsätzlich frei gewählte, aber ist dennoch im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag zu sehen. Es ist jedenfalls falsch davon zu reden, dass sie Österreich aufgezwungen wurde. Sie ist ein Ergebnis der Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Vereinbarung Österreichs mit den vier Besatzungsmächten. Wenn auch der russische Präsident diese Friedensordnung, die allerdings durch den Zusammenbruch der Sowjetunion verändert wurde, brutal zerstören möchte, so sollte Österreich sie nicht leichtfertig infrage stellen.
Aktive Neutralität – global und in Europa
Österreichs Neutralität war immer eine militärische und das Land hat – vielfach im Unterschied zur Schweiz – sich von vornherein als aktives Mitglied der Staatengemeinschaft gesehen. Der Beitritt zur Uno und dann die Mitgliedschaft in der EU waren Zeichen dieser aktiven und engagierten Interpretation der Neutralität. Und auch die erfolgreiche Bewerbung um einen Uno-Sitz und dann um den Sitz der OSCE in Wien waren gezielte Maßnahmen, um die neutrale Position Österreichs zu untermauern. Und natürlich waren diese Bemühungen auch ein klares Bekenntnis zu den multilateralen Organisationen, in denen Österreich eine aktive Rolle spielen wollte.
Umgekehrt hat aber auch eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Nato vor allem im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden der Neutralität keinen Abbruch getan. Als ich unmittelbar nach meiner Wahl ins Europäische Parlament für eine Annäherung an die Nato plädierte, hat das noch für Aufregung gesorgt. Aber heute ist eine solche Kooperation wie zum Beispiel am Balkan selbstverständlich. Der entscheidende Schritt in der weitgehenden Auslegung der Neutralität war sicher der EU-Beitritt. Da gab es innerhalb der EU, aber auch innerhalb Österreichs etliche Bedenken, ob eine Vollmitgliedschaft in der EU mit der Neutralität vereinbar sei. Diese Bedenken wurden durch innen- und außenpolitische Konsultationen und einer, mit großer Mehrheit angenommenen, Volksbefragung zurückgewiesen. Während der Verhandlungen über Vertragsänderungen, vor allem über den Lissabon-Vertrag, hat Österreich darauf gedrängt, dass es nicht durch Mehrheitsentscheidungen zu militärischen Handlungen gezwungen werden kann. Ein Resultat war die Einführung der "konstruktiven Enthaltung", die es der Mehrheit ermöglicht, eine Entscheidung – wie Waffenlieferungen an die Ukraine – zu treffen und Österreich erlaubt, nicht daran teilzunehmen.
Im Übrigen verändert sicher die Mitgliedschaft in der EU die Vermittlerrolle, die Österreich einnehmen kann. Aber unabhängig davon kam es zu einer stärkeren Diversifizierung von Vermittlern, wenn wir an die Versuche des türkischen Präsidenten und des israelischen Ministerpräsidenten denken, die in der Ukrainekrise zu vermitteln versuchen. Und auch China ist inzwischen aktiv geworden. Auch die Teilnahme an den Sanktionen ist immer wieder auf die Vereinbarkeit mit der Neutralität überprüft worden. Diesbezüglich gibt es ebenfalls unterschiedliche Auffassungen. Es ist nicht auszuschließen, dass ein von den Sanktionen betroffener Staat dies als unfreundlichen Akt auffasst und darin sogar eine Aggression sieht, auf die er gewillt ist, militärisch zu reagieren. Allerdings werden Sanktionen nicht aus Willkür verhängt und sind meist eine Reaktion auf aggressives Verhalten eines Drittstaates. Aber sicher kommt man mit scharfen Sanktionen, wie sie zuletzt gegen Russland verhängt wurden, nahe an die Grenzen der Vereinbarkeit mit der Neutralität heran.
Hat sich die Neutralität überholt?
Mit Recht stellt sich grundsätzlich die Frage, ob angesichts der neuen (Un-)Sicherheitslage in Europa die Neutralität noch Sinn ergibt. Manche Wissenschafter und Kommentatoren gehen davon aus, dass der Krieg in der Ukraine vermieden hätte werden können, hätte die Ukraine sich neutral erklärt. Ein Bekenntnis zur Neutralität war ja ursprünglich die Mehrheitsmeinung der ukrainischen Bevölkerung. Erst das russische Verhalten mit der Annexion der Krim und der militärischen Intervention im Osten der Ukraine hat einen gewissen Meinungsumschwung gebracht. Und Präsident Putin hat schon seit längerem das ukrainische Volk als – wenngleich nicht gleichwertigen – Teil des russischen Volks angesehen und daher die massive Attacke gegen die Ukraine gerechtfertigt. Also kann man durchaus bezweifeln, dass eine Neutralität der Ukraine den Krieg verhindert hätte.
Putin hat andere Ziele, als nur einen Sicherheitskorridor zwischen Russland und der Ukraine zu schaffen. Es geht ihm um die (Wieder-)Herstellung eines großrussischen Reichs. Dennoch, wenn es nach einigen Jahren zu einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine kommen sollte, dann ist eine solche wahrscheinlich nur als neutraler Staat denkbar. Dasselbe gilt für Serbien. Auch Moldawien hat ein Beitrittsansuchen an die EU gestellt, aber gleichzeitig seine schon seit einiger Zeit beschlossene Neutralität unterstrichen. Und wahrscheinlich wird das auch für Georgien gelten.
Es mag sein, dass sich Schweden und Finnland umgekehrt zu einem Beitritt zur Nato entscheiden, aber dennoch wird damit die EU keine neutralitätsfreie Zone werden dürfen. Es muss weiterhin die Möglichkeit bestehen, in der EU eine aktive Rolle zu spielen und militärisch neutral sein zu können. Die Neutralität sollte niemandem aufgezwungen werden. Aber sie sollte es Staaten ermöglichen, unter Berücksichtigung der geopolitischen Lage in Europa der EU beizutreten, ohne eine neue Krise herbeizuführen.
Grenzen für die Militarisierung der EU
Damit sollte aber auch den Versuchen der Militarisierung der EU gewisse Grenzen gezogen werden. Die EU sollte sicher ihre Verteidigungspolitik stärker koordinieren, um ihre Interessen abzusichern. Aber sie sollte sich nicht zu einem Militärbündnis entwickeln, und schon gar nicht zu einem Bündnis, das gegen einen anderen europäischen Staat gerichtet ist. Eine solche Entwicklung würde nicht nur manchen bestehenden Mitgliedstaaten wie Österreich das Leben schwer machen, sondern auch einigen Beitrittskandidaten die Chancen des Beitritts rauben.
Trotz der massiven russischen Aggression gegen die Ukraine und der bereits seit Jahren erfolgten Verletzungen internationalen Rechts durch Russland muss die EU – aber auch Österreich – rational handeln, und zwar so, dass möglichst viele in der Europäischen Union ihren Platz finden können. Der Weg dorthin wird ohnehin lang und beschwerlich sein, aber er sollte nicht durch eine Umwandlung in ein Militärbündnis erschwert werden. Dazu ist die Nato da und natürlich auch Instrumente wie die Partnerschaft für den Frieden. Und parallel wird auch die EU nach Möglichkeiten suchen müssen, mit einem Russland der Nach-Putin-Zeit eine vernünftige Koexistenz aufzubauen. Aber das wird sicher Jahre brauchen. Inzwischen sollte man die EU schrittweise erweitern, aber nicht unbedingt die Nato.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.