HAT DIE DEMOKRATIE VERLOREN ?

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und des europäischen Kommunismus war die Hoffnung  groß, dass die Demokratie einen weltweiten Siegeszug antreten wird. Francis Fukuyama, ein prominenter Politikwissenschaftler hat das „Ende der Geschichte“ vorausgesagt: das kapitalistische System in Verbindung mit der liberalen Demokratie wird sich überall durchsetzen. In einem berühmt gewordenen Aufsatz meinte er, dass die liberale Demokratie den „Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit“ und die „endgültige menschliche Regierungsform” darstellen könnte. In seinem nachfolgenden Buch hat Fukuyama allerdings, selbst Zweifel bekommen, ob die Menschen in einem solchen „endgültigen“ System Befriedigung erlangen könnten und ob nicht neue Konflikte auftreten werden. 


30 Jahre danach
Betrachten wir die Entwicklungen der letzten 30 Jahre - das Buch mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ erschien 1992 - so kann von einer weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie keineswegs die Rede sein. Die Demokratie hat international aber auch innerhalb einiger Länder einen Rückzug angetreten. Dabei gibt es etliche Zwischenformen zwischen Demokratie und autoritären, meist populistischen Systemen, in denen die Demokratie mehr oder weniger eingeschränkt wird. Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind vor allem die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die frühere Hoffnungen zunichte gemacht hat haben. Russland ist dafür ein „gutes“ Beispiel. 

In Russland hat die Rückwärtsentwicklung schon vor der Präsidentschaft Putin begonnen. Um eine Wahl eines kommunistischen Kandidaten zum Präsidenten - statt Boris Jelzin - zu verhindern, hat auch der Westen, vor allem Amerika mitgeholfen, ein kleptokratisches System ins Leben zu rufen. Damit wurde ein System unterstützt, dass Putin unter seiner Präsidentschaft weiterentwickelte. Es geht dabei nicht so einfach um eine Regierungsform gemäß dem Slogan „das Kapital regiert die Welt“. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Verquickung von Politik und Geld zu beider Vorteil. 

Besonders Präsident Putin hat klar gemacht, dass er keine politische Konkurrenz wünscht. Er favorisierte jene Oligarchen, die ihm seine politischen Wünsche erfüllten und hat sie dafür belohnt. Diejenigen, die glaubten, sie könnten ihm etwas aufzwingen oder die andere politische Vorstellungen hatten, warf er ins Gefängnis, manche bezahlten ihren Widerstand mit dem Leben. Aber das heutige Russland ist nicht das einzige, dass nach diesem System funktioniert. Der kasachische Ex-Präsident Nazarbayef hat ein solches System aufgebaut. Und vor allem seine Familie sollte davon profitieren. Allerdings, nachdem er sich mit dem in Menschenrechtsfragen ebenso nicht gerade zimperlichen Schwiegersohn überwarf, bekam dieser die Staatsgewalt spüren. 

Aber nicht nur große Staaten sind durch solche Systeme gekennzeichnet. Auch in Staaten wie in Serbien finden wir eine autoritäre Präsidentschaft, wobei es hier vor allem um eine Verknüpfung von Politik und Medienmacht geht. Das trifft auch auf Ungarn zu. Die Kontrolle der Medien über direktes Eigentum von mächtigen Politikern bzw. über abhängige Magnaten, die die Gunst der Staatsführung genießen, ist in allen autoritären Systemen besonders wichtig. Die politischen Führungsschichten wollen ohne Transparenz und Kritik Macht auszuüben und Vorteile an Günstlinge aus der Familie im engeren oder weiteren Sinn verteilen.

Die US amerikanische Journalistin Anne Applebaum hat in einem jüngst erschienen Artikel mit dem Titel „The Autocrats are winning“ (Die Autokraten gewinnen) darauf hingewiesen, dass die Bildung solcher politischer und finanzieller Vernetzungen ein System schaffen soll, dass die Macht des Führers stabilisiert. Denn mit dem Sturz des „Chefs“ würden viele weitere Abhängige fallen. Und die werden daher mit aller Kraft das „System“ und damit dessen Chef verteidigen. Und selbst wenn - vorübergehend andere Personen gewählt werden, können sie nicht viel „anrichten“, da die Vorgänger einen „tiefen Staat“ errichtet haben, also viele gesellschaftliche Positionen mit ihren - das heißt ihnen gegenüber hörigen - Personen besetzt haben. 

Im Übrigen verweist sie darauf, dass sich die verschiedenen Autokraten und deren Systeme gegenseitig bei ihren illegalen Geschäften unterstützen. Nur so können sich manche Diktatoren wie zum Beispiel Maduro in Venezuela halten. Selbst in Regionen, in denen ethnische Konflikte vorherrschen, wie am Balkan kann man eine funktionierende kriminelle Zusammenarbeit über die ethnischen Grenzen hinweg erkennen. Damit will ich keineswegs auf ein globales und koordiniertes Netz von autoritären Kräften hinweisen, das die ganze Welt beherrscht. Es sind vielmehr verschiedene Netzwerke, die nebeneinander tätig sind, die sich zum Teil gegenseitig unterstützen.

Auch China hat sich statt in Richtung Demokratie weiter weg von dort entwickelt. Ji Jimping hat die Kommunistische Partei nicht einer vermehrten Konkurrenz ausgesetzt, sondern sie noch stärker im gesellschaftlichen Leben verankert. Was den vom chinesischen KP und Staatschef immer wieder favorisierten Kampf gegen die Korruption betrifft, so kann dieser von außen schwer beurteilt werden. Aber, dass die Bekämpfung der Korruption einen hohen Stellenwert hat, zeigt das hohe Ausmaß der Korruption. Inwieweit die Bekämpfung der Korruption, vor allem der politischen Vernichtung innerparteilicher Gegner dient, kann - angesichts totaler Medienkontrolle - ebenfalls schwer eingeschätzt werden. Offensichtlich wird der demokratische Rückschritt, vor allem in Hong Kong. Selbst Denkmäler, die an die Ereignisse auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“, dem Tiananmen 1989 erinnern sollten, wurden vor kurzem entfernt. 

Geschichte wird umgeschrieben 

Das Umschreiben der Geschichte bzw. eine einseitige Interpretation geschichtlicher Ereignisse ist ein wesentlicher Bestandteil autoritärer Systeme. So hat vor kurzem auch das Regime in Moskau eine Organisation namens MEMORIAL verboten, die sich mit den Verbrechen in der Sowjetunion, vor allem in der Stalinzeit, auseinandergesetzt hat. Nicht, dass das heutige Russland mit der Sowjetunion unter Stalin vergleichbar wäre. Aber die dunklen Flecken der Geschichte sollten nicht beleuchtet werden. Und schließlich war für Putin der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte Katastrophe des letzten Jahrhunderts“. Die autoritären Führer von heute von Putin bis Erdogan wollen sich als Nachfolger von großen Führern der Vergangenheit darstellen und lehnen eine kritische Auseinandersetzung auch mit sehr problematischen Vorgängen und Vorgängern ab, wenn diese in ihrer ideologischen Ausrichtung passen. 

Eine einseitige und nationalistische bzw. ethnisch orientierte Darstellung der Geschichte untermauert auch die Ansprüche der verschiedenen Machthaber am Balkan. Somit kann aber weder ein gemeinsamer bosnisch-herzegowinischer Staat entstehen, noch sich ein friedliches Zusammenleben zwischen Serbien und Kosovo bzw. von Serben und Albaner im Kosovo entwickeln. Die Versuche, die unterschiedlichen Positionen und Einschätzungen zu und von geschichtlichen Ereignissen darzustellen und zu diskutieren, wird von nationalistischen und autoritären Machthabern abgelehnt. Serben sollen serbische Geschichte lernen, Kroaten kroatische, Bosniaken bosnisch/muslimische und die Kosovo Albaner die albanische. Und zwar immer nur die positiven Seiten, die Verbrechen begehen immer nur die anderen. 

Autoritäre Systeme und Frieden

Eine für das friedliche Zusammenleben entscheidende Frage ist, ob autoritäre Systeme und Führer eher zu kriegerischen Auseinandersetzungen neigen als demokratische. Wenn man die aktuelle Situation in Europa und in Asien betrachtet, so kann man zu diesem Schluss kommen. Der Truppenaufmarsch in Russland nahe zur Grenze mit der Ukraine und die chinesischen Flugmanöver im Luftraum über Taiwan stellen zumindest gefährliche Drohkulissen dar. Autoritäre Führer sind immer wieder geneigt, ihre Macht im Inneren zu stabilisieren, indem sie einen äußeren Feind benennen, den es zu bekämpfen gilt. Dabei werden die Verhältnisse umgekehrt: die viel kleinere Ukraine bedroht das um etliches größere Russland und nicht Russland die Ukraine. Der Hinweis von Putin auf Russen und Ukrainer als ein Volk und von der chinesischen Führung auf die notwendige Einheit der Chinesen auf dem Festland und auf der Insel Taiwan sind jedenfalls nicht für das friedliche Zusammenleben förderlich. 

Autoritäre und nationalistische Führer sind trotz Lippenbekenntnisse nicht sehr an kollektiven, multinationalen Lösungen interessiert. Für sie gilt es zu verhindern, dass sie ihre politischen Ziele nicht umsetzen können. Die nationalen Interessen haben Vorrang vor gemeinschaftlichen Lösungen auf dem Kompromissweg. Es ist auch keineswegs verwunderlich, dass Präsident Trump mit seinem Slogan „America First“ ein vehementer Gegner multilateraler Organisationen und Lösungen war. Diese Haltung passt genau in das Bild autoritärer Führer.


Fake news
In der heutigen Zeit sind autoritäre Systeme aber auch an einer globalen Medienpräsenz interessiert. Die sozialen Medien geben dabei diesen Systemen eine größere Chance, ohne Medien oder Journalisten zu kaufen, ihre „fake news“ zu verbreiten. Sicherlich gibt es auch seitens grundsätzlich demokratischer Systeme Falschmeldungen. Aber es kann ziemlich deutlich nachgewiesen werden, dass autoritäre Systeme sich selbst und die Führer extrem unkritisch darstellten, der Konkurrenz werden allerdings viele Nachteile und Verfehlungen unterstellt. Dabei nützen die autoritären Systeme bestehende Social Media wie Facebook oder gründen neue - oder verwenden beide Zugänge. 

Die sozialen Medien schaffen aber auch globale Netzwerke und verknüpfen so autoritäre Systeme mit autoritären Bewegungen in demokratischen Systemen. Einer der diesbezüglich besonders aktiv war, war bzw. ist der ehemalige Berater von Donald Trump, Steve Bannon. Aber es gibt auch weniger radikale Unterstützer des ehemaligen Präsidenten. Einer davon ist Peter Thiel, bei dem zuletzt auch der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurz angeheuert hat. Er versucht rechts-konservative Abgeordnete in den US Kongress zu hieven und die Trump Ära wieder zu beleben. Wir müssen also auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Trump wieder kommt und neuerlich versucht, auch den USA eine autoritäre Richtung zu verpassen und die Demokratie zu unterlaufen. Dabei vertreten die Anhänger Trumps oftmals abstruse Slogans. In Ohio bewirbt sich ein Trump Apologet mit dem Tweet: „Ohio muss ein Staat für Gott, für die Familie und für Bitcoin sein.“ Dazu hat Paul Krugman in einem Kommentar in der New York Times darauf hingewiesen, dass Bitcoin, wie andere Kryptowährungen, vor allem der Abwicklung von illegalen Geschäften dient - auch wenn die Unabhängigkeit vom staatlich kontrollierten Bankensystem ideologisch begründet wird. 

Zwiespältigkeit der Individualisierung 
Die Aktivitäten autoritärer Systeme und die Verbreitung autoritärer Ideologien haben aber nur dann Erfolg, wenn es dafür aufnahmebereite Menschen gibt. Hat sich diesbezüglich etwas geändert? Es ist sehr wahrscheinlich, dass parallel zu politischen Entwicklungen auch individuelle und gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden haben. Die stärker wahrnehmbare Kritik an Politkern, aber auch an der „Lügenpresse“ sowie das stark abgenommene Vertrauen in die Wissenschaft deuten auf eine geänderte Einstellung bei vielen BürgerInnen hin. 

Grundsätzlich hat global eine Individualisierung stattgefunden, die in vieler Hinsicht als positiv zu bewerten ist. Sie hat die Menschen von manchen Zwängen befreit. Aber sie hat auch das Vertrauen in „kollektive“ Erfahrungen und gemeinsames Wissen und gemeinsame politische Lösungen zerstört. Das war ja vielfach auch das Interesse des globalen Kapitalismus und extremer konservativer Kräfte. Bekannt ist der Ausspruch von Margret Thatcher „There is no such Thing as Society“ (Sowas wie Gesellschaft gibt es nicht). Die Globalisierung sollte nationale wirtschafts- und soziale Systeme zumindest schwächen - vor allem in Europa. Interessant ist, dass dieses Zurückdrängen kollektiver Lösungen auf nationaler Ebene parallel zur Infragestellung von multilateralen Lösungen und Organisationen auf globaler Ebene erfolgt ist.

Die Auflösung des wohlfahrtsorientierten Sozialstaats ist viel weniger gelungen als von den Wirtschaftsliberalen gewünscht. Aber insofern sie gelungen ist, hat sich das gerächt. Jetzt stellt sich nämlich die Frage, wie man den notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder herstellt.  Denn parallel zur Individualisierung hat sich vor allem in den sozialen Medien die Kritik an staatlichen „Eingriffen“ und an der Rolle der Wissenschaft verbreitet.  Menschen können sich angesichts der durch Politik und Wissenschaft ungelösten Probleme eigene Lösungen aussuchen. Und sie versuchen ihre Zukunftsängste durch individuell ausgesuchte Lösungen zu beruhigen.

Dabei sind sie dann aber doch auf Bewertungen und Lösungen aus dem Netz angewiesen. Und da scheinen dann oft „Lösungen“ auf, denen Verschwörungstheorien zu Grunde liegen. Diesen von ihnen erkannten Verschwörungen - zum Teil kommt wieder die jüdische Weltverschwörung zutage - muss entgegengetreten werden. Dadurch entstehen neue elitäre Gemeinschaften - zum Beispiel bei den regelmäßigen Demonstrationen - die aber den staatlichen Angeboten und auch demokratisch zustande gekommenen Gesetzen gegenübergestellt werden. 

Findet die Demokratie eine Antwort?

Die Demokratie hat es schwer mit solchen Verschwörungstheorien und zum Teil radikalen Reaktionen darauf umzugehen.  Autoritäre Systeme antworten durch nationalistische Parolen, eigene Verschwörungstheorien und Rückgriffe auf vergangenen Ruhm und die Religion. Das ist aber demokratischen Systemen verwehrt. Insofern sind sie in einer schwächeren Position - zumindest kurzfristig. 

Es gibt kein Rezept gegen den globalen aber auch nicht gegen den nationalen und gesellschaftlichen Autoritarismus. Die Infragestellung und das Untergraben von Demokratie, gemeinschaftlichen Lösungen und Kompromissen kann nicht mit einem Zaubermittel bekämpft werden. Nur das Festhalten an demokratischen Prozessen und die Bereitschaft zum ständigen Dialog kann der Demokratie Kraft verleihen. Politische Kräfte in Demokratien sollten sich nicht auf halbem Weg in Richtung autoritärer Systeme bewegen. Da hat es gerade auch in Österreich Versuche gegeben über „message control“ und korrupte Netzwerke autoritäre Strukturen zu schaffen. 

Vor allem gilt es wieder stärker gemeinschaftliche Lösungen anzupeilen. Nationale und individuelle Interessen müssen wieder mit gemeinschaftlichen Zielen in Einklang gebracht werden. Die großen anstehenden Aufgaben von mehr Sicherheit, Klimaschutz und bis zur Gesundheit können nur gemeinsam gelöst werden - auf nationaler, europäischer, und globaler Ebene. Dabei sind Konflikte unvermeidlich. Aber nicht unvermeidlich sind Kriege, haltlose Unterstellungen und Unversöhnlichkeit.  


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.