Scheitern oder Versagen: Deutschland diskutiert die Hintergründe und sicherheitspolitischen Folgen des historischen Debakels in Afghanistan

Die verstörenden Bilder vom Kabuler Flughafen brennen die Niederlage der stärksten Staatenkoalition der Welt und ihres lokalen Verbündeten gegen eine primitiv ausgerüstete Widerstandsbewegung ins kollektive Gedächtnis auch der Deutschen ein. Und anders als in Vietnam, in Libyen und dem Irak, als man hierzulande die militärischen und politischen Fehlschläge der befreundeten Supermacht mehr oder weniger selbstgerecht kommentieren konnte, muss Deutschland diesmal seinen Teil der Verantwortung tragen. Das fällt umso schwerer, als Afghanistan war nicht irgendeine Intervention war. Afghanistan war der längste, kostspieligste und blutigste Einsatz der westlichen Staatengemeinschaft seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Und auch in der Reihe der deutschen Auslandseinsätze sticht Afghanistan heraus. Ganz am Anfang und unter dem Schock der einstürzenden Zwillingstürme stand die Bündnissolidarität im Kampf gegen Al Qaida im Zentrum des Kalküls der rot-grünen Koalitionsregierung. Dann aber drückte Deutschland dem internationalen Engagement mit der Petersberg-Konferenz und dem Plädoyer, Sicherheit für Afghanistan umfassend zu denken und Erfolge der militärischen Stabilisierung durch eine politische und gesellschaftliche Transformation langfristig abzusichern, seinen Stempel auf. Umgekehrt forderte und veränderte der Afghanistan-Einsatz die deutsche Politik und die deutschen Streitkräfte wie kein anderer. Was für die Bundeswehr als zivil-militärische Mission zur Absicherung des „Experiments für eine neue Form von (…) nation-building“ begann (https://www.amazon.de/Unterwegs-die-Zukunft-deutsch-afghanischer-Sicherheitskooperation/dp/3830509774), endete im Bodenkrieg und mit dem Verlust der Unschuld angesichts der zivilen Opfer des deutschen Militäreinsatzes. In den letzten 20 Jahren hatten weit über 100.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten Einsatzzeiten im Rahmen von ISAF und der Nachfolgemission Resolute Support. Das Markenzeichen der Bundeswehr – die Innere Führung und das Leitbild des Bürgers in Uniform – wurde dabei zunehmend in Frage gestellt. Angehörige der Streitkräfte begriffen den Einsatz als das Normale und begrüßten den Umbau der Bundeswehr zu einer „Expeditionsarmee“ (https://www.amazon.de/Auftrag-Auslandseinsatz-Milit%C3%A4rgeschichte-Geschichtswissenschaft-Milit%C3%A4rgeschichte/dp/3793096947). Aber nicht nur für die Streitkräfte wurde Afghanistan zur Bewährungsprobe. Auch für die deutsche Polizei, die Ministerien und für Organisationen der internationalen Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe wurde Afghanistan zu einem zentralen Betätigungsfeld und einer Herausforderung.

Nun, da „alles für die Katz“ ist, so die Klage eines Veteran des Einsatzes, beginnen in der veröffentlichten Meinung und der Politik die wechselseitige Schuldzuweisung und der Streit über Konsequenzen für deutsche Politik. In der Debatte über die Ursachen des Debakels lassen sich zwei Lager unterscheiden: die einen begreifen Afghanistan als politisches und moralisches Versagen und argumentieren, hätte Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft dieses oder jenes anders gemacht, hätte die Mission gelingen können. Insbesondere sei es ein Fehler gewesen, die früheren „Warlords“ an der Macht zu beteiligen, die Taliban von der Macht auszuschließen, anfangs nicht genügend Truppen stationiert zu haben, zu viel für Militär und zu wenig für zivilen Aufbau ausgegeben zu haben, die afghanische Armee falsch ausgerüstet zu haben und schließlich zu früh und überhastet abgezogen zu sein. Die anderen begreifen Afghanistan als Scheitern. Deutschland und seine Partner hätten viel geleistet und richtig gemacht. Und selbst wenn sie dieses oder jenes anders und besser gemacht und mehr investiert hätten, sie hätten ihr Ziel kaum erreichen können. Als solches formulierte die NATO 2004 die „ emergence of a secure and stable Afghanistan, with a broad-based, gender-sensitive, multi-ethnic and fully representative government“ (https://www.nato.int/docu/pr/2004/p04-096e.htm). Der Umbau einer archaischen von Bürgerkrieg geprägten Stammesgesellschaft in eine westlich inspirierte Demokratie konnte nicht gelingen (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/afghanistan-und-der-westen-eine-entgegnung-auf-navid-kermani-17510528.html). Das Ende der gut bewaffneten afghanischen Armee, die wie ein Kartenhaus beim ersten Luftzug zusammenbrach, ist aus dieser Sicht symptomatisch für die übrigen Institutionen des afghanischen Staates und der neu entstandenen Sektoren der afghanischen Wirtschaft, die eher potemkinschen Dörfern glichen, als selbsttragenden Strukturen.

Entsprechend unterschiedlich lauten die Lehren, die beide Lager für die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik ziehen und ziehen werden. Die Politik hält sich mit Schlussfolgerungen noch zurück und beschäftigt sich vorläufig mit der Frage, wer für den chaotischen Abzug und die spät begonnene Evakuierung der Ortskräfte verantwortlich ist. Bundeskanzlerin Merkel hat umfassende Aufklärung versprochen und die Parteien für den nächsten Bundestag die Einsetzung einer Enquetekommission (SPD) bzw. eines Untersuchungsausschusses (FDP und Grüne) angekündigt. Ob sich die Politik tatsächlich ehrlich und ernsthaft der Frage stellen wird, was in Afghanistan schiefgelaufen ist und welche Konsequenzen aus dem Fiasko zu ziehen sind, bleibt abzuwarten. Derzeit hat es noch nicht den Anschein. Denn vorderhand beklagen politische Entscheidungsträger die große militärische Abhängigkeit von und den geringen politischen Einfluss auf die USA. Tatsächlich wurden deutsche Entscheidungsträger von unilateralen Abzugsentscheidung Bidens geradezu düpiert. Diese nicht nur in Deutschland verbreitete Klage führt nun aber zu der paradoxen Situation, dass die Verteidigungsminister und Ministerinnen der EU kurz nach dem Abflug der letzten Militärmaschine aus Kabul darüber diskutieren, wie die EU in Zukunft eigenständiger militärische Interventionen „out-of-area“ durchführen kann.

Ein solches Weiter-so mit leichten Korrekturen wäre freilich verheerend, denn die These des Versagens steht auf tönernen Füßen. Wohlfeil ist etwa das Argument, in Afghanistan sei lediglich ein militärischer Einsatz gescheitert. Sicherlich floss der größere Teil der deutschen und internationalen Aufwendungen für Afghanistan in die militärische Absicherung, und nicht in den zivilen Aufbau. Nur ist die Stationierung von Militär nun einmal teuer, flossen ganz erhebliche Mittel auch in Schulbildung, administrative Unterstützung und wirtschaftliche Entwicklung und leisteten die Soldatinnen in der ersten Phase des Einsatzes einen großen Teil der Wiederaufbauarbeit. Das Militär gibt den Vorwurf denn auch gerne zurück und verweist darauf, mit militärischen Mitteln ließe sich bei Einsätzen wie in Afghanistan bestenfalls Zeit gewinnen für den zivilen Aufbau und die Konsolidierung politischer Ordnung. Gelinge dies nicht, sei auch das beste Militär überfordert. Gescheitert in Afghanistan sei nicht die militärische Stabilisierung durch die Truppen der NATO, sondern der Aufbau selbsttragender staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen einschließlich verantwortlicher und selbstständig funktionierender afghanischer Sicherheitskräfte. Auf den Prüfstand gehöre also auch ein weiteres Markenzeichen deutscher Sicherheitspolitik, nämlich der comprehensive approach oder vernetze Ansatz. Endgültig in den Schwanz beißt sich dieses Argument, wenn es gleichzeitig mit der Kritik gekoppelt wird, Deutschland und die anderen Mächte hätten anfangs nicht genug Militär stationiert.

Zu kurz greift auch das Argument, die Mission in Afghanistan sei schon früh schiefgelaufen, weil die externen Mächte auf Druck der USA die alten Warlords wieder ins Spiel gebracht hätten. Sicherlich waren die meisten dieser Gesellen korrupt, skrupellos und vordringlich an der Konsolidierung ihrer Macht interessiert. Die Frage ist nur, woher denn in der damaligen Lage lupenreine Demokratien und Verteidiger der Menschenrechte hätten kommen und wie sie in den vorhandenen Verhältnissen politisch hätten bestehen sollen. Selbst dem anfangs hochgelobte Hamid Karzai wurde am Ende nachgesagt, er residiere über ein System aus Korruption. Auch Erfahrungen aus anderen Kontexten weisen nicht darauf hin, es sei eine gute Idee, in derartigen Übergangssituationen die alten Machteliten kaltzustellen. Im Irak hatten die USA genau das probiert, mit der Folge, dass die von der Macht ausgeschlossenen Offiziere und Mitglieder der Baath-Partei die bewaffnete Opposition erst stark machten.

Immer richtig, aber letztlich auch nicht hilfreich ist schließlich der Einwand, der Westen hätte sich zu zögerlich und zu wenig engagiert. Sicherlich war, worauf Navid Kermani in einem aufwühlenden Artikel hinwies, Afghanistan ein finanziell und personell schlecht ausgestatteter Versuch des Nation building (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/gastbeitrag-von-friedenspreistraeger-kermani-zu-afghanistan-17501100.html). Zumindest dann, wenn man Afghanistan mit den amerikanischen Projekten des Staatsaufbaus nach 1945 in Deutschland und Japan oder auch dem im Kosovo vergleicht. Aber auch im Kosovo ist die Klage über zu wenig Unterstützung laut. Mehr ist also immer vonnöten. Was in Afghanistan nötig gewesen wäre, deutet Kermani womöglich versehentlich an: Er beklagt den Verrat an einer aufkeimenden, „nach individueller Freiheit strebenden Mittelschicht, die in zwei, drei Generationen das Fundament einer tatsächlichen Demokratie hätte bilden können“. 

Kurzum ist das Debakel in Afghanistan ein Weckruf, endlich Auslandseinsätze und darüber hinaus weitere Instrumente der Intervention und des state-building auf den Prüfstand zu stellen. Was die Auslandseinsätze angeht, hat die deutsche Politik eine wirkungsorientierte Evaluation angekündigt, aber bisher nicht umgesetzt. Eine solche wirkungsorientierte Evaluation ist sicherlich nicht einfach. Die Erfolgsmessung ist umstritten, die Datenlage ist schlecht und die Attribution eine große Herausforderung. Für erste Überlegungen siehe hier: (https://www.hsfk.de/publikationen/publikationssuche/publikation/auslandseinsaetze-evaluieren). Deshalb aber ein Lernen gar nicht zu versuchen, wäre verantwortungslos. Noch unbequemer ist die größere Frage: Wenn sich Staatsversagen und wirtschaftlicher Kollaps als Ursache von Extremismus, Terrorismus und Migration nicht durch Intervention von außen und die Instrumente des vernetzten Ansatzes bearbeiten lassen, was bleibt dann von dem Vorsatz der deutschen Politik, international mehr Verantwortung übernehmen zu wollen?


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Dr. Matthias Dembinski ist Forscher an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und er ist Mitglied des IIP Beirates.