Erschienen am 06.05.2024 bei watson
Israels Offensive in Rafah ist ein "weiterer Höhepunkt der humanitären Katastrophe"
Es hagelte Kritik, Bedenken und ein großes Zögern seitens der USA. Doch Israel zieht den Militäreinsatz in Rafah offenbar trotzdem durch, auch ohne die volle Zustimmung des engsten Verbündeten. Dafür spricht der aktuelle Aufruf Israels, dass Zivilist:innen die Stadt verlassen sollen. Betroffen sind demnach etwa 100.000 Menschen.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zeigte sich in der Vergangenheit entschlossen, den Schritt auch ohne den Rückhalt der USA zu gehen. Er will offensichtlich nach Rafah einmarschieren, um jeden Preis.
"Die von Israel angekündigte Militäroperation in Rafah wird gewissermaßen zum Kristallisationspunkt des Krieges in Gaza", verkündet Politikwissenschaftler Heinz Gärtner auf watson-Anfrage.
Rafah: Schutzort für Zivilisten – jetzt plant Israel Militäreinsatz
Rafah ist eine palästinensische Stadt im Gazastreifen an der Grenze zu Ägypten. Sie dient als Zufluchtsort für Menschen, die sich vor den Luftangriffen Israels in Sicherheit bringen wollen. "Doch es gibt keine Sicherheitszonen mehr", meint Gärtner, sollte Israel nun auch dort eine Bodenoffensive starten.
Zum Hintergrund: Am 7. Oktober 2023 überfiel die Terrororganisation Hamas Israel und ermordete etwa 1200 Israelis, darunter auch Frauen und Kinder. Hunderte Menschen wurden nach Gaza verschleppt. Als Reaktion darauf begann Israel eine Militäroperation im Gazastreifen. Laut der Vereinten Nationen gibt es mehr als 30.000 Todesopfer in Gaza, darunter viele Frauen und Kinder. Die humanitäre Lage bleibt weiterhin katastrophal.
"Eine Invasion israelischer Elitetruppen wäre ein weiterer Höhepunkt der humanitären Katastrophe. Die eineinhalb Millionen Menschen, werden ein weiteres Mal vertrieben. Eine hohe Anzahl ziviler palästinensischer Opfer ist unvermeidlich", warnt Gärtner. Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien tätig.
Der Schritt geht auch den USA zu weit.
Rafah-Offensive: Biden bittet Netanjahu um Einsicht
Laut Gärtner hat US-Präsident Joe Biden das israelische Kabinett mehrmals aufgefordert, von dem Einmarsch abzusehen. Seine Autorität stehe auf dem Spiel. Denn: Bisher habe Ministerpräsident Netanjahu auf Bidens Aufforderungen gänzlich wenig Rücksicht genommen, meint der Experte. Etwa wenn es um bessere Nahrungsmittelversorgung, humanitäre Hilfe und um den Schutz der zivilen Bevölkerung geht.
Gärtner betont zudem: “Auch wäre ein Einmarsch die offensichtliche Missachtung der Resolution des UN-Sicherheitsrates 2728, die einen 'unmittelbaren und nachhaltigen Waffenstillstand' fordert, bei der sich die USA enthalten hatte."
Die Priorität für Israel sei aber die Zerstörung der politischen und militärischen Führung der Hamas. "Dabei ist unklar, ob sich diese überhaupt in Rafah befindet", sagt der Politikwissenschaftler.
Zuletzt war die Drohung mit der Invasion Rafah ein zentraler Verhandlungsgegenstand der Waffenstillstandsverhandlungen. Laut Gärtner fordert Israel die Freilassung der israelischen Geiseln, um die Operation aufzuschieben, kündigt aber gleichzeitig die Unvermeidlichkeit des Einsatzes an. Die Hamas verlange Garantien dafür, nicht nur von Israel, sondern auch von den USA. Doch: Beide wollen diese nicht geben.
Nach Ansicht des Experten glaubt Israel, dass nur ein Einmarsch verhindert, dass die Hamas in der künftigen politischen Führung in Gaza weiterhin eine Rolle spielt. "Israel lehnt, mit oder ohne Hamas, einen unabhängigen Palästinenserstaat aber ohnehin ab", sagt er. Zudem: Die Kontrolle Israels über Gaza sei unvereinbar mit einer Zwei-Staaten-Lösung.
Auf der anderen Seite steige der Druck auf Ägypten, die Grenzen für Geflüchtete zu öffnen und die Menschen aufzunehmen, führt Gärtner aus. Dieses Szenario würde aber zu einer permanenten Vertreibung aus palästinensischem Gebiet gleichkommen.
Der Experte zieht demnach folgendes Fazit: Eine militärische Invasion Israels in Rafah würde Bidens Schwäche offenlegen, der Vertreibung der Palästinenser eine weitere Dimension verleihen, einen zusätzlichen Höhepunkt des humanitären Leidens erreichen, und ein Ende einer Verhandlungslösung über einen Waffenstillstand und damit eine Missachtung des UN-Sicherheitsrates bedeuten.
Die Zwei-Staaten-Lösung werde dann durch israelische Kontrolle oder Besatzung Gazas unmöglich.