Die Nato-Europäer rechtfertigten ihren Einsatz in Afghanistan mit der Beistandspflicht des Bündnisses. Ihre vermeintliche Bündnistreue wurde aber nicht belohnt. Der österreichische Politikwissenschaftler Dr. Heinz Gärtner hat sich in seinem Kommentar für SNA zur Rolle der internationalen Akteure in Afghanistan geäußert.
Afghanistan-Konferenz ohne Einbeziehung Europas
Die erste Initiative der Regierung Biden in Westasien im März 2021, eine Konferenz der Vereinten Nationen über Afghanistan einzuberufen, erfolgte ohne Einbeziehung Europas, obwohl seit zwanzig Jahren auch Soldaten und Soldatinnen aus europäischen Ländern in Afghanistan stationiert waren. Eingeladen wurden neben den USA die Türkei, Pakistan, China, Russland, Indien und der Iran. Erst nachdem Präsident Joe Biden den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan angekündigt hatte, folgten die Nato-Europäer nach. Biden machte bei einer Pressekonferenz am 8. Juli klar, dass die Ziele der Vereinigten Staaten erreicht wurden. Die Al-Qaida hätte keine Basis mehr in Afghanistan, wovon Gefahr für die USA ausgehen könnte, und Osama bin Laden wurde ausgeschaltet. Die Vereinigten Staaten wären ja niemals in Afghanistan gewesen, um Wiederaufbau zu leisten („to nation-build“).
Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt
Aber gerade das hatten die Europäer geglaubt, wozu sie in Afghanistan wären. Der frühere deutsche Verteidigungsminister Peter Struck drückte es 2002 so aus: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Damit meinte er nicht nur die Bekämpfung des Terrorismus, sondern auch den Schutz beim Aufbau der Infrastruktur oder Schulen. „Unsere Sicherheit wird größer, wenn sich die Bundeswehr mit Erfolg am Wiederaufbau unter demokratischen Vorzeichen auf dem Balkan und in Afghanistan beteiligt, indem sie hilft, dort das dringend benötigte sichere Umfeld zu schaffen.“ Der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan beruhte auf der Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei. Eine derartige Einschätzung wurde von Nachrichtendiensten aus EU-Staaten schon viel früher getroffen. Dennoch entschieden sich die Nato-Verbündeten, mit den USA den Krieg weiterzuführen.
Vietnam-Szenario in Afghanistan
Die Verantwortung für die Sicherheit wurde nun den lokalen Kräften übergeben. Diese Strategie wurde schon von Präsident Nixon angewendet, als er vor dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam 1975 die „Vietnamisierung“ Südvietnams ankündigte, was die Übernahme durch die nordvietnamesischen Truppen ermöglichte. Ähnlich waren die Taliban* in Afghanistan bereits auf dem Vormarsch. Vietnam blieb ein kommunistischer Staat. Die USA nahmen 1995 diplomatische Beziehungen mit Vietnam auf, die sich seit Jahrzenten weiterentwickelten. Das ist umso erstaunlicher, als fünfzigtausend amerikanische Soldaten in diesem Krieg gefallen waren. Die amerikanische Erzählung über das Trauma der Geiselnahme im Iran von 1979, bei dem es keine Opfer gab, hält etwa aber an. Jedenfalls dürften die USA keine Probleme haben, mit den Taliban gute Beziehungen aufzunehmen, wenn es ihren geopolitischen Interessen entspricht.
Washington und Moskau in Afghanistan
Washington und Moskau haben in Afghanistan dieselben Befürchtungen, dass sich eine terroristische Bewegung wie Al-Qaida einnisten könnte, die international operiert. Um das zu besprechen, war der Grund, warum eine Delegation der Taliban am 9. Juli 2021 in Moskau empfangen wurde. Diese Vertreter der Taliban beeilten sich, diese Bedenken sowohl gegenüber Washington als auch Moskau zu zerstreuen. Damit sich aber internationale Einflussnahme im Sinne des Kalten Krieges nicht wiederholt, wird Afghanistan einen glaubwürdigen neutralen Kurs verfolgen müssen. Vielleicht wurde auch darüber in Moskau gesprochen.
*unter anderem von der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan, Weißrussland) als Terrororganisation eingestuft, deren Tätigkeit in diesen Ländern verboten ist
Originally published by SNA News on July 15, 2021
Image by Amber Clay from Pixabay