Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben den erwarteten Rechtsruck gebracht - wenngleich gesamteuropäisch in einem geringeren Ausmaß als befürchtet. Nicht überall wurden die Rechten und Nationalisten so stark wie in Frankreich, Deutschland und Österreich. Allerdings noch wissen wir nicht, wie sich einzelne unabhängige Mitglieder positionieren werden und wie die derzeit in zwei rechten Fraktionen organisierten Abgeordneten zusammenarbeiten, um die Entscheidungen und Postenbesetzungen im EU-Parlament besser zu beeinflussen. Der Rechtsruck bei den EU-Wahlen folgt einem Rechtsruck in mehreren nationalen Wahlen, zuletzt in den Niederlanden. Nur die Wahlen in Polen bildeten eine Ausnahme, die der Europäischen Volkspartei angehörende Partei von Donald Tusk konnte die extrem rechte PIS - knapp - schlagen.
Wie geht es weiter?
In den nächsten Wochen müssen auch der/die Kommissionspräsident*in und die Kommissar*innen bestellt werden. Sie werden vom Rat der Regierungschefs (Kommissionspräsident*in) und von den Regierungen (Kommissar*innnen) nominiert. Sie müssen aber im EU-Parlament eine Mehrheit finden und dort gewählt werden. Auch wenn rechtlich die in Kürze stattfindenden Wahlen in Frankreich und Österreich diese Nominierungen und die Wahlen im EU-Parlament danach nicht beeinflussen müssen, kann es doch zu Problemen kommen, falls sich der Rat der Regierungschef*innen nicht rasch einigt.
Jedenfalls, auf Grund vergangener Wahlen ist davon auszugehen, dass es mehr Kommissar*innen geben wird, die aus dem rechts-populistischen bis rechts-extremen Lager kommen. Zwar können Kommissionspräsident*in und das Parlament allzu extreme Kandidat*innen verhindern, aber jedenfalls im EU-Parlament braucht es dazu eine klare Mehrheit und die ist heute angesichts des Rechtsrucks nicht mehr so leicht zu finden wie in früheren Jahren.
Was ist aber das Problem, wenn es jetzt mehr rechte Abgeordnete und rechte Regierungen in Europa gibt? Die heute aktiven Rechten stehen einerseits nach wie vor der EU ablehnend oder zumindest kritisch gegenüber. Das heißt sie lehnen tendenziell die politische Einheit, für die bzw. in die sie gewählt worden sind, ab. Das bedeutet, dass zumindest einigen von ihnen eine große Freude machen würde, wenn sie mithelfen könnten, die EU zu zerstören.
Statt gegen die EU mit ihr rechte Politik machen?
Nun angesichts der gewachsenen Stärke der Rechten, insbesondere auch im EU-Parlament kann sich das auch geändert haben. Jetzt wo sie mehr in der EU Gewicht haben, kommen manche von ihnen auf den Geschmack das „gemeinsame“ Europa für die Umsetzung ihrer Ideen zu verwenden. Das Ziel der Zerstörung der EU könnte von einer Politik der Umwandlung der EU in einen losen und damit geschwächten Staatenverbund abgelöst werden. Das gefällt übrigens auch manchen in der rechten Mitte, die ja auch immer wieder über die Überregulierung klagen.
Ivan Krastev hat in einem Kommentar in der Financial Times schon vor der Wahl gemeint, dass sich manche Rechte davor fürchten, „zu gewinnen und gezwungen zu sein, ihre radikalen Versprechungen um- und durchzusetzen.“ Und Caroline de Gruteyr geht in einem Kommentar in der New York Times - International Edition davon aus, dass auch die Rechte die stärkere Bedeutung der Europäischen Union für die Bevölkerung zur Kenntnis nehmen musste. Daher werden sie versuchen die Europäische Union von innen zu verändern: „Die Populisten werden nach Brüssel gehen und ihre Beleidigungen, Vereinfachungen und Falschmeldungen verbreiten… Sie sind laut und vulgär – genau, wie es sich schon jetzt in der nationalen Politik abspielt, im Gegensatz zur bisherigen europäischen Politik - Aber das ist was Demokratie bedeutet: ein Wettbewerb an politischen Ideen, ausgetragen vor einer interessierten Öffentlichkeit.“
Es bleibt aber zu hinterfragen, ob die durch Fake News gekennzeichnete und vulgäre Politik, die wir nun auch auf europäischer Ebene erleben werden, nicht generell die demokratischen Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft ziehen werden. Überdies besteht die Gefahr, dass ein ohnehin global geschwächtes Europa auf Grund der verstärkten nationalistischen Kräfte noch mehr geschwächt wird und seine Interessen noch weniger durchsetzen kann.
Was bedeutet eine starke und extreme Rechte für Europa?
Wie oben erwähnt, die Rechte beklagt besonders oft die von Brüssel kommenden Regulierungen. Für sie ist der Nationalstaat der oberste und einzig legitimierte Gesetzgeber. Nun es gibt wenige die sich an einer Fülle von Regulierungen erfreuen und immer noch mehr davon verlangen. Aber wie soll man eine effiziente Klimapolitik ohne klare und verbindliche Regelungen betreiben? Da kommt dann das Schlagwort von der Technologieoffenheit ins Spiel. Aber was heißt das für die Investor*innen und die Konsument*innen wenn sie nicht wissen, in welche Richtung sie ihre betrieblichen und privaten Investitionen tätigen sollen? Und wie sollte die Klimapolitik - soweit eine überhaupt für notwendig gehalten wird - auf freiwilliger Basis funktionieren? Sollen alle Zusagen, die international vereinbart worden sind, zurückgenommen werden? Soll Europa von einem Vorreiter zu einem nörgelnden Nachzügler werden?
Sicher ist die ungeregelte Migration vielen ein Dorn im Auge. Aber zum Teil findet sie so ungeregelt statt, weil sich insbesondere die rechten Kräfte - allen voran die ungarische Regierung - geweigert haben einer gemeinsamen Regelung zuzustimmen. Wenn sich die Rechten mit einer klar migrationsfeindlichen Politik durchsetzen, werden deswegen kaum weniger Flüchtlinge kommen. Aber immer weniger werden Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Menschlichkeit eingehalten werden. Und parallel dazu werden die meisten Staaten - so wie Ungarn heute - ausländische Arbeitskräfte importieren. Es wäre nur zu wünschen, würde es zu einer gemeinsamen und besser geregelten Migrations- und Asylpolitik kommen, aber wahrscheinlich wird das „Migrations- und Asylchaos“ noch größer werden, wenn der Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern noch stärker den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen werden wird.
Eine weitere Folge des Rechtsruckes wird es sein, dass auch grobe Verletzungen der Grundrechtscharta der EU ungeahndet bleiben werden. Es werden sich immer genug Regierungen finden, die ein Verletzungsverfahren gegen Staaten, die EU-Recht brechen, blockieren werden, selbst wenn im EU-Parlament ein diesbezüglicher Antrag eine Mehrheit findet, was ohnedies schwieriger geworden ist.
Spannend wird zu sehen sein, wie die erstarkte Rechte mit der Verteidigung der ukrainischen Souveränität umgehen wird. Da ist sie tief gespalten. Auf der einen Seite gibt es die Rechte in Polen etc., die klar zur Verteidigung der Ukraine steht. Bisher hat sich die italienische Regierungschefin Meloni von den Fratelli d’Italia dieser Position angeschlossen. Auf der anderen Seite stehen die Rechten in Frankreich, in Deutschland und Österreich und natürlich auch in Ungarn, die große Sympathien für die russische Aggression hegen. Die Politik gegenüber der Ukraine bzw. Russland kann schon bei der Nominierung des/der Kommissionspräsident*in ein Knackpunkt werden.
Damit sind wir auch bei der Frage der EU-Erweiterung. Sie stockt schon seit langem, aber im Interesse der gemeinsamen Sicherheit sollten wohl überlegte und gut geplante Schritte gesetzt werden, um diese Länder stärker an die EU heranzuführen. Angesichts der Bedrohungen von außen brauchen wir diese Länder auf der Seite der Europäischen Union und nicht auf der Seite der Gegner der EU.
Und was die Rolle Europas in der Welt betrifft, so ist kaum anzunehmen, dass sich die Nationalisten für eine Stärkung der EU generell und auch spezifisch gegenüber den USA oder auch China etc. einsetzen wird. Man hat da ja wenig gehört - außer Hinweise auf den eigenen Patriotismus. Der ist aber ein eigenartiger, wenn man an die finanziellen Zuwendungen, gerade aus den Händen Vladimir Putins an verschiedene rechte Parteien, denkt. Zu glauben, dass man mit einem engstirnigen Nationalismus oder auch einer europäischen Überheblichkeit besser in einer unsicheren und chaotischen Welt bestehen kann, ist ein Irrglaube.
Wie konnte es dazu kommen?
Mein Eindruck ist, dass wir in den letzten Jahren und zum Teil Jahrzehnten viel zu wenig inhaltlich in der Öffentlichkeit argumentiert haben. Von der Mitte bzw. von Links ist zu sehr die rechte Gefahr an die Wand gemalt worden und zu wenig auf die spezifischen negativen Rückwirkungen für die europäischen Bürger*innen hingewiesen worden. Auch wenn die Rechten vielfach „laut und vulgär“ auftreten, dürfen die gegnerischen Kräfte nicht auf Argumente verzichten.
Besonders betrifft das den Dialog mit jungen Wähler*innen, die zu einem wachsenden Anteil die Rechten wählen. Sicher hängt das auch damit zusammen, dass sich viele dieser Wähler*innen immer weniger über Medien informieren, die einigermaßen dem Anspruch der Ausgewogenheit gerecht werden. Hinzu kommt, dass gerade die Rechten die Sozialen Medien benutzen, um ihre einfachen und vielfach negativen Botschaften zu verbreiten. Und auch in Regierungsfunktionen werden sie immer wieder Feinde finden, die sie für unser Unglück verantwortlich machen können.
Jedenfalls ist die Auseinandersetzung zwischen den Parteien der Mitte und der Linken (und dazu gehören auch die in verschiedenen Ländern unterschiedlich orientierten Grünen) nun auch stärker auf die europäische Ebene getragen worden. Aber auch dort ist sie stärker mit Argumenten zu führen. Der Versuch, die extreme und populistische Rechte zu isolieren, hat nicht funktioniert.
Und jetzt?
Das macht nun die Situation der politischen Parteien der Mitte im Europäischen Parlament nicht leichter. Auch wenn es keine Koalitionen gibt, so ist doch bei der Wahl des/der EU-Kommissionspräsident*in und dann der Kommissar*innen seitens der Mitte bzw. der Kräfte links von der Mitte zu überlegen, welche Kompromisse einzugehen sind, um die Kommission nicht in die Abhängigkeit der Rechten zu treiben. Die wahrscheinliche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ja ihre Präferenz bekannt gegeben. Sie will die Zusammenarbeit der Mitte weiterführen - allenfalls in zentralen außenpolitischen Fragen auch mit Meloni. Dabei ist davon auszugehen, dass die Wahlgewinner der Mitte, die Europäische Volkspartei, durchaus spekuliert auch stärker mit einem Teil der Rechtspopulisten zusammen zu arbeiten. Hoffentlich stehen bei all diesen Überlegungen die langfristigen europäischen Interessen im Vordergrund und nicht kurzfristige parteipolitische Überlegungen.
Entscheidend ist aber auch wie der Rat der Regierungschefs zusammengesetzt sein wird. Die Parlamentswahlen in Frankreich und dann in Österreich können schon in naher Zukunft die Stimmung und die Stimmen im Rat nach rechts verschieben. Und so kann der Rechtsruck im Europäischen Parlament noch weiter verstärkt werden. Das kann unter anderem auch einen Freibrief für Russland in der Ukraine bedeuten. Damit entsteht Schritt um Schritt ein anderes Europa und nicht nur die gegenwärtige Europäische Union wird eine andere. Die Verantwortung der politischen Kräfte, die bisher die EU unterstützt und ausgebaut haben, ist also sehr groß. Ich kann nur hoffen, dass sich alle dieser Verantwortung bewusst sind und dementsprechend handeln.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.