Erschien im DerStandard Blog ‘Gesellschaft-Macht-Frieden‘ am 15.01.2024
Das Zweite Vertragsstaatentreffen des Atomwaffenverbotsvertrages (TPNW) fand im Dezember 2023 in New York statt. Sie ist aus der Sicht der Veranstalter durchaus erfolgreich verlaufen und endete mit einem gemeinsamen Abschlusstext. Die erste dieser Konferenzen gab es Ende Juni 2022 in Wien.
Der Vertrag drückt Besorgnis über die humanitären Konsequenzen eines Nuklearwaffeneinsatzes aus und fordert die völlige Vernichtung von Nuklearwaffen. Er trat im Jänner 2021 in Kraft und erreichte bis zur Konferenz 93 Ratifikationen und 69 Unterzeichner. Das sind insgesamt etwa drei Viertel der Staatenwelt.
Nukleare Abschreckung dominiert das Denken
Tatsächlich gibt es ein tiefes Misstrauen zwischen Nuklearwaffenstaaten (NWS) und Nichtnuklearwaffenstaaten (NNWS). Die NNWS haben ihre Nuklearwaffen aufgegeben als sie dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) beigetreten sind. Sie dachten, das wäre ein Weg, zu vermeiden, dass sie ein primäres Ziel bei einer nuklearen Auseinandersetzung werden. Die NNWS haben das Gefühl, betrogen worden zu sein. Sie haben mit ihren Beitritten zum NPT auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichtet; die NWS haben aber ihre Verpflichtung, ernsthaft über komplette Abrüstung zu verhandeln, wie in Artikel VI des NPT gefordert, nach Ansicht der NNWS nach nicht eingehalten. Deshalb forderten sie ein rechtlich verpflichtendes Verbot, das der TPNW darstellt.
Die diplomatischen Bemühungen der Vertragsstaaten, Nuklearwaffen abzuschaffen, haben eine den Nuklearwaffenstaaten entgegengesetzte Norm geschaffen. Abrüstung anstelle von Abschreckung! Dennoch dominiert die Erzählung der Nuklearwaffenstaaten die Meinung der politischen Eliten in den Nuklearwaffenstaaten und ihren Verbündeten. Kein Nuklearwaffenstaat und kein mit ihnen verbündeter Staat unterstützen den TPNW. Da sich die Nato als Bündnis basierend auf nuklearer Abschreckung versteht, ist Europa der Kontinent, in dem es die geringste Anzahl von Mitgliedstaaten gibt. Bei einer Konferenz der EU in Brüssel Anfang Dezember 2023 mit dem Titel "Nichtverbreitung und Abrüstung" war das zentrale Thema "Verteidigung und Abschreckung" und nicht Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Es gibt zwei gegensätzliche Auffassungen von Sicherheit. Die NWS fühlen sich geschützt, wenn sie Nuklearwaffen besitzen, die NNWS fühlen sich von ihnen bedroht und fühlen sich sicherer ohne sie. Das dominierende Prinzip der nuklearen Abschreckung steht gegen die Norm der nuklearen Abrüstung. Eine nuklearwaffenfreie Welt kann es nur geben, wenn das Dogma der nuklearen Abschreckung aufgebeben wird. Es gibt hingegen keinerlei Anzeichen, dass das internationale sicherheitspolitische Establishment dazu bereit wäre.
Dabei gibt es keinen Beweis dafür, dass nukleare Abschreckung den Krieg verhindert. Man kann nicht beweisen, warum etwas nicht passiert. Der Abschreckungslogik liegt eine eigenartige Paradoxie zugrunde. Man nimmt an, dass der Gegner sich rational an diese Logik hält, unterstellt ihm aber gleichzeitig die Irrationalität einer Angriffsabsicht. Konventionelle Kriege haben Nuklearwaffen jedenfalls nicht verhindert. Die Kriege in Korea, Vietnam, Falkland-Argentinien, Indien gegen Pakistan und diejenigen gegen Israel 1973 und 2023, sowie der ukrainische Widerstand gegen die Nuklearmacht Russland, sind einige Beispiele dafür. Dennoch glauben Nordkorea, Indien und Pakistan mit ihren Nuklearwaffen, Angriffe mit konventionellen Waffen verhindern zu können.
Nukleare Abschreckung und nukleare Kriegführung
Wohl gab es seit Ende des Kalten Krieges eine Reduktion der Anzahl der Nuklearwaffen. Die NWS haben aber durch permanente Modernisierung der Nuklearwaffen Artikel VI des NPT verletzt. Diese Modernisierung entspricht durchaus der Sicherheitslogik der Nuklearwaffen. Abschreckung ist nicht der alleinige Zweck von Nuklearwaffen. Wenn Nuklearwaffen Sinn haben sollen, müssen sie auch einsetzbar sein. Wenn sie nicht einsatzbar sind, schrecken sie auch nicht glaubwürdig ab. Glaubwürdig einsetzbar sind sie allerdings nur, wenn sie klein genug sind, dass sie lediglich "begrenzten" Schaden anrichten können und sich der Gegner – wenn auch beschämt – zurückziehen kann. Drohung mit Nuklearwaffen soll so überzeugender werden. Damit werden Nuklearwaffen auch zwangsläufig zu Kriegsführungswaffen.
Kleinere Nuklearwaffen machen zwar die Abschreckung glaubwürdiger, ihren Einsatz aber auch wahrscheinlicher. Dieses Prinzip galt schon bei der Nato-Strategie der "Flexible Response" in den 1970er Jahren, als man sah, dass eine Drohung mit massiver gegenseitiger Zerstörung nicht glaubwürdig war. Zu glauben, dass eine nukleare Auseinandersetzung begrenzt werden könne, ist eine verführerische, aber unwirkliche Annahme. Es gibt keine Studie, die beweisen kann, dass ein Nuklearkrieg begrenzt werden kann.
Nuklearwaffen machen NWS und deren Verbündete nicht notwendigerweise sicherer, wie diese annehmen. Im Gegenteil, NWS und deren Verbündete sind erste Zielländer anderer NWS. Schon wie im Kalten Krieg könnten das die europäischen Länder sein. Die großen Nuklearwaffenstaaten, die USA und Russland, könnten versuchen, ihre großen Städte im Falle eines Nuklearkrieges zu verschonen, und den Krieg mit kleineren Nuklearwaffen auf Europa zu begrenzen. Dem sollte der Mittelstreckenvertrag von 1987 vorbeugen, der aber 2018 von Präsident Trump gekündigt wurde. Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine birgt diese Gefahr wieder in sich, falls eine Seite ihre Existenz gefährdet sieht.
Europa: Nuklearmacht oder nuklearwaffenfrei?
Eine Schlussfolgerung kann sein, dass Europa selbst eine Nuklearwaffenmacht wird, um sich unabhängiger von US-Interessen zu machen. Die Forderung nach einer Europaarmee bereitet dieses Argument vor. Das würde zuallererst das Ende des Atomwaffensperrvertrages bedeuten. Jedes EU-Mitglied würde Nuklearstaat werden, einschließlich Österreich. Dann würde jeder Staat in Europa Zielgebiet von Nuklearwaffen sein.
Eine Alternative zum Szenario, in dem Europa ein potentielles nukleares Schlachtfeld werden könnte, wäre, dass Europa keine Nuklearwaffen besitzt, beherbergt oder stationiert, also nuklearwaffenfrei wird. Der polnische Außenminister Rapacki hatte mit dem Plan einer neutralen Zone ohne Nuklearwaffen in Mitteleuropa 1957 eine derartige Vision vorgegeben. Wegen der entstehenden Nuklearblöcke und dem Widerstand des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer wurde dieser Plan aber nicht umgesetzt.
Die NWS werden auf absehbare Zeit nicht zur nuklearen Abrüstung schreiten. Der TPNW wird also sein Ziel der vollständigen Abrüstung auf absehbare Zeit nicht erreichen, wenn auch seine Unterstützer Optimismus ausstrahlen.
Erweiterte Abschreckung und nukleare Erpressung
Dazu kommt das Prinzip der erweiterten Abschreckung ("extended deterrence"). Die Verbündeten der NWS, wie die Nato-Mitglieder, Südkorea und Japan, verlassen sich auf das Versprechen der NWS, dass Nuklearwaffen im Falle eines Angriffes auf Verbündete ("umbrella states") eingesetzt werden. Der TPNW würde aber das gegenteilige Versprechen enthalten, nämlich keine Nuklearwaffen einzusetzen. Verbündete von NWS, laufen dadurch Gefahr, Ziele von Nuklearwaffen zu werden. Aber auch für die NWS ist dieses Versprechen eine Drohung mit Selbstmord, weil sie dann selbst zum Ziel eines Vergeltungsschlages werden können. Außerdem müsste die "nukleare Teilhabe" der Nato beendet werden, wenn die Verbündeten der USA dem TPNW beitreten wollten. Die in verschiedenen Nato-Staaten (Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei) gelagerten nicht-strategischen Nuklearwaffen müssten abgezogen werden. Dasselbe gelte für die in Weißrussland stationierten russischen Raketen.
Ein weiterer Grund, Nuklearwaffen zu besitzen ist, dass schon die Drohung mit dem Einsatz mit Nuklearwaffen ("nuclear coercion") politische Vorteile bringen kann. Israel nützte seine Nuklearwaffen etwa, um die USA zu bestimmten Handlungen zu zwingen. 1973 drohte der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan, Nuklearwaffen einzusetzen, um mehr militärische Unterstützung von den USA zu erzwingen. Dieses Mittel könnte auch im gegenwärtigen Krieg im Gaza eingesetzt werden. Nicht ganz zufällig sprach der israelische Kulturminister diese Möglichkeit an. Schon wegen dieses Druckmittels, wird Israel nicht daran denken einer Nuklearwaffenfreien Zone Mittlerer Osten beizutreten.
All diese Argumente sollen das Verdienst des TPNW nicht schmälern, dass er ein neues zum Abschreckungssystem alternatives Normensystem geschaffen hat, das auch eine rechtliche Basis hat.
Heinz Gärtner unterrichtet an der Universitäten Wien. Er war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP). Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren unter anderem an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Unter anderem ist er Herausgeber des Buches "Engaged Neutrality" (Lexington).