Am 14.5 werden in der Türkei entscheidende Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden - soweit kein „unerwartetes“ Ereignis dazwischenkommt. Allerdings schon nach dem furchtbaren Erdbeben im Osten der Türkei haben manche erwartet, Präsident Erdogan werde versuchen die Wahlen zu verschieben. Aber er wollte anscheinend kein zusätzliches Risiko eingehen. Ein Risiko besteht jedenfalls angesichts der Stimmung im Lande und der Kritik an der von ihm unterstützten Baulobby, die für die großen Erdbeben Schäden mit verantwortlich ist. Aber leicht wird es nicht sein, die Siegesserie von Tayip Erdogan zu unterbrechen.
Meister des Jonglierens
Es gibt kaum einen so geschickten politischen Jongleur wie Tayip Erdogan. Er hält verschiedene Bälle gleichzeitig in der Luft. Und diese Bälle stellen Ziele dar, die sich oftmals deutlich widersprechen. Er hält die Türkei in der NATO aber unterhält - nur manchmal leicht getrübte - gute Beziehungen zu Russland. Dabei liefert er gleichzeitig Drohnen an die Ukraine, um sich gegen die russische Aggression zu verteidigen. Und diese Balance nutzt er, um verschiedene Deals mit und zwischen den beiden Kriegsparteien auszuhandeln.
Er unterstützte Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien aber er versucht - gleichwohl mit leisen und langsamen Schritten - eine Normalisierung mit Armenien. Er positionierte sich als muslimischer Gegenpol und Alternative zu den arabischen Führern im Nahen Osten, aber jüngst versuchte er wieder eine Annäherung an sie. Eine solche Annäherung ist derzeit auch gegenüber Israel im Gange - einen Staat, den er ob seiner Palästina Politik heftig kritisierte.
Im Lande selbst hat er verschiedene Strategien gegenüber den politischen Kräften der Kurden versucht. So versuchte er sogar mit der revolutionären und zum Teil terroristischen PKK zu einem Kompromiss zu kommen. Dem Scheitern der diesbezüglichen Gespräche folgten neue Repressalien gegenüber gewählten Vertretern der Kurden, die er generell der Zusammenarbeit mit der PKK verdächtigte. Der sehr gemäßigte Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, sitzt - obwohl gewählter Abgeordneter - schon lange im Gefängnis. Und in allen Gesprächen, die ich mit Erdogan führte, erwähnte er mit Stolz, dass in den kurdischen Gebieten, die von ihm geführte Partei, die AKP, am meisten Stimmen bekommt. Schließlich hat seine Partei auch stark religiös geprägte Kurden unterstützt.
Türkischer Nationalismus
Erdogan präsentiert die Türkei als unabhängigen und selbstbewussten Staat, der sich von niemandem etwas diktieren lässt. Das gilt insbesondere auch für die EU, die den Beitrittsprozess wegen der „Autokratisierung“ der Türkei und den damit verbundenen Abbau des Rechtsstaates unterbrochen hat. Sicher gibt es auch in der EU - nicht zuletzt in Österreich - viele Stimmen die einen Beitritt der Türkei grundsätzlich ablehnen. Ich hatte da als EU-Abgeordneter eine viel offenere Haltung, was mir viel Kritik zu Hause einbrachte. Aber vor allem sah ich den starken und weit verbreiteten Nationalismus in der Türkei als das größte Hindernis gegenüber einem EU-Beitritt. in diesem Sinn repräsentiert Erdogan mit seinem selbstbewussten Vorgehen eine starke Strömung, nicht nur im politischen Establishment, sondern auch in breiten Schichten der Bevölkerung.
Ich hatte die Gelegenheit alle Vorgänger von Erdogan als türkischer Ministerpräsident kennen zu lernen und zum Teil mehrmals ausführlich zu sprechen. Begonnen hat es mit Bülent Ecivit, dem letzten „sozialdemokratischen“ Regierungschef. Erdogan traf und sprach ich als Ministerpräsident und sah dabei auch seine Wandlung in Richtung eines typischen Vertreters der stolzen Türkei. Alle Politiker*innen, die ich traf - mit Ausnahme der kurdischen Vertreter*innen -, waren trotz vieler Unterschiede in ihren politischen Anschauungen mit einem großen Nationalstolz versehen.
Sie waren überdies alle mit sehr starken innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert. Da war einmal das starke Militär, das sich berufen fühlte, den säkularen Charakter des Landes zu wahren und auch in diesem Sinne, aber damit zum Schaden der Demokratie, mehrmals intervenierte. Und diese Interventionen mündeten auch in furchtbaren Diktaturen, so 1960 und 1980. Selbst wenn immer wieder ein Übergang zu demokratischen Verhältnissen geschaffen wurde, die Perioden der Diktatur hatten nachhaltigen Einfluss und haben die innenpolitische Rolle des Militärs nicht geschwächt. Das Kopftuchverbot im öffentlichen Raum - unter anderem auf den Universitäten - war ein Symbol für den säkularen Charakter des Landes, den die oppositionelle CHP und das Militär gemeinsam verteidigten. Es gab aber auch linksradikale und zum Teil terroristische Gruppierungen, die die Demokratie beseitigen wollten. Und dann gab und gibt es Kräfte innerhalb der kurdischen Bevölkerung, die unter Anleitung des - seit längerem inhaftierten - Führers Öcalan terroristische Anschläge verüben. Als EU-Parlamentarier konnten wir sogar - das war allerdings vor Erdogan - Gefangene aus diesen extremen politischen Lagern besuchen.
Erdogans Reformen und Kehrtwendung
Erdogan veränderte viel in und an der Türkei. Er sprach die traditionell und religiös orientierten Mittelschichten- vor allem außerhalb der Städte an. Und die weitgehende Lockerung bzw. Abschaffung des Kopftuchverbots war ein Symbol für diese Orientierung. In diesem Sinn korrigierte er das Ungleichgewicht der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, das die kemalistische Politik schuf bzw. bewahrte. Aber gleichzeitig reorganisierte er die Türkei in Richtung einer - religiös geprägten - Autokratie.
Er benutzte einen noch immer mit vielen Rätseln versehenen, aber fehlgeschlagenen Coup eines Teils des Militärs, um dieses von säkularen Anhängern zu säubern und gab dem Militär neue Aufgaben zur Abwehr der mit der PKK verbündeten Kurden in Syrien. Gleichzeitig benutzte er den Coup, um sich von den treu gebliebenen Anhängern seines früheren Lehrmeisters und Unterstützers Fethullah Gülen zu befreien. Dieser wurde zum Hauptfeind. Vor allem viele Journalist*innen büßten dafür, dass sie nicht hundertprozentig hinter Erdogan standen bzw. stehen. Ein - oftmals nur vermeintlicher - Anhänger von Fatullah Gülen zu sein, wurde von einem Asset zu einem Makel und wurde schnell mit Entlassung, Berufsverbot und Gefängnis bestraft.
So vielfältig und flexibel Erdogans Außenpolitik ist, so einfältig und eindimensional ist seine Innenpolitik. Ihm geht es um Erhalt und Ausbau seiner Macht. Dafür glaubt er die Unterdrückung der Meinungsvielfalt und eine gehorsame Justiz zu brauchen. Und die Berufung auf die Traditionen des Osmanischen Imperiums und auf den sunnitischen Islam gibt ihm eine ideologische Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Machtansprüche.
Schafft es die Opposition?
Bei den kommenden Wahlen steht also viel am Spiel. In all den vergangen Jahren ist auf Seiten der „sozialdemokratischen“ Opposition leider kein glaubwürdiger und starker politischer Gegner zu Erdogan herangewachsen. Zugegebenermaßen hatte ich immer ein gespaltenes Verhältnis zur CHP. Sie war autoritär säkular und vertraute auf das Militär zur Durchsetzung des laizistischen Charakters des Staates. Sie konnte überdies kaum ein vernünftiges Verhältnis zu den Kurden finden, dafür waren sie zu nationalistisch türkisch.
Zwar hatte ich auf Einladung des langjährigen Vorsitzenden Denis Baykal einmal einen großen und umjubelten Auftritt auf einem CHP-Parteitag, auf dem ich die Zukunft der Türkei in der Europäischen Union einforderte. Aber Denis Baykal war kein Hoffnungsträger für eine andere Türkei. Ich traf auch mehrmals den gegenwärtigen Vorsitzenden und Spitzenkandidat der Opposition, Kemal Kilicdaroglu. Mit ihm hatte ich allerdings einen großen Konflikt als er - als mein Gast im EU-Parlament - gegenüber der Presse Erdogan mit dem syrischen Diktator Assad gleichsetzte. Abgesehen davon war und ist er auch innerhalb der CHP sehr umstritten.
Was würde sich ändern?
Trotzdem wäre es ein großes Glück für die Demokratie in der Türkei würde er Tayyip Erdogan als Präsident ablösen. Dabei darf man sich hinsichtlich der Außenpolitik nicht zu viele Änderungen erwarten. Wahrscheinlich würde es mehr Konsistenz und Gradlinigkeit geben. Aber all die nationalen Eigenschaften, die Erdogan nur verschärft und mit persönlichem Kolorit versehen hat, würden auch unter einem Präsidenten Kilicdaraoglu zum Ausdruck kommen. Und das wird auch so sein, wenn Erdogan zwar die Präsidentschaft gewinnt, aber die Parlamentsmehrheit verliert.
Bei der Präsentation des Türkei Berichts, den ich 2001 dem EU-Parlament vorlegte und der mit großer Mehrheit angenommen wurde, meinte ich, dass wenn der Beitritt nicht in absehbarer Zeit zustande kommen sollte, man eine andere Art der Zusammenarbeit anstreben müsste: „Wenn der Beitritt nicht in absehbarerer Zeit - etwa fünf Jahren - erfolgt, muss man wohl eine andere Form der Partnerschaft überlegen, denn einen ewigen Kandidatenstatus kann weder die Türkei noch die EU wollen.“ Aber tatsächlich gibt es diesen Status formal noch immer, allerdings ohne konkrete Zielvorstellungen wie es weitergehen soll. Ich meine nach wie vor, dass man eine strategische Partnerschaft anstreben sollte - gerade auch für gemeinsame Friedensbemühungen im Nahen Osten, im Süd Kaukasus und Zentralsein.
Allerdings, derzeit gibt es weder eine Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft noch auf eine strategische Partnerschaft. Aber mit einem Präsidenten Kilicdaroglu wäre eine Neuorientierung in Richtung einer pragmatischen Partnerschaft eher möglich. Letztendlich müsste sich die EU auch mit Erdogan - trotz seiner autoritären Art das Land zu führen - um eine Partnerschaft in Teilbereichen bemühen. Es bleibt aber immer noch die Frage, ob Erdogan dazu bereit wäre.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.