Israel feiert heuer im Frühjahr seine Gründung vor 75 Jahren. 1947 hatte die UNO die Teilung Palästinas in zwei selbstständige Staaten in einer dramatischen Abstimmung entschieden. Es sollte einen jüdischen und einen arabischen Staat geben. Aber wie jede Teilung eines gemeinsamen Territoriums, erfolgte auch die Teilung des Mandatsgebiets im Nahen Osten unter großen Schmerzen und hinterließ dauerhafte Verletzungen.
Konsequenzen von Holocaust und Nakba
Die Entstehung Israels selbst ist ja unmittelbare Konsequenz der noch immer nicht fassbaren Katastrophe der Shoa. Aber andererseits hatte und hat diese Staatsgründung noch immer eine katastrophale Auswirkung, die Nakba, also die Vertreibung vieler Palästinenser aus ihren Häusern und Dörfern. Und neue israelische Dokumente belegen, dass die Vertreibung der Araber - im Unterschied zum oftmals behaupteten „freiwilligen“ Verlassen - eine größere Rolle gespielt hat als offizielle israelische Stellen es wahr haben wollten.
Dabei geht es nicht um die Gleichsetzung dieser zwei historischen Ereignisse. Es geht vielmehr darum, dass es beiden Seiten schwer fällt, die Leiden der anderen Seite anzuerkennen. Das haben vor allem Bashir Bashir und Amos Goldberg im Vorwort zu ihrem Buch „The Holocaust and the Nakba“ deutlich gemacht: „Jede Seite ist überzeugt, dass sie selbst das ultimative Opfer der Geschichte ist, während sie das Leid der anderen Seite hinunter spielt, um die eigenen Ansprüche zu rechtfertigen.“ Es wurde nicht versucht, einen gemeinsamen Rahmen für das Umgehen mit dem eigenen Leid und dem der anderen Seite zu schaffen. In einem solchen Rahmen hätte man besser mit den jeweiligen Ansprüchen umgehen können.
Aus dieser gegenseitigen Nicht-Anerkennung folgt, dass die Mehrheit der Palästinenser der jüdische Bevölkerung keine Legitimität für ihre Existenz in Palästina zuerkennen. Andererseits sehen sich die jüdischen Vertreter berechtigt, immer mehr Gebiete für sich in Anspruch zu nehmen. Und je mehr dieser Anspruch religiös untermauert wird, umso mehr sieht man sich berechtigt und manchmal sogar verpflichtet, „das von Gott den Juden gegebene Land“ wieder in Besitz zu nehmen.
Während meiner Tätigkeit im Europäischen Parlament hatte ich immer wieder die Gelegenheit Israel und Palästina zu besuchen und politische Gespräche zu führen. Ich traf mehrmals Shimon Peres und Yasser Arafat aber auch mehrere israelische Minister*innen und palästinesische Verhandler für die Gespräche mit Israel. Immer wieder gab es nach diesen Gesprächen Anlass zur Hoffnung, denn es gab auf beiden Seiten Vertreter*innen, die sehr wohl ein Interesse an einer Lösung des grundlegenden Konflikts hatten. Aber bei vielen fehlte der Mut, solche Lösungen auch den „eigenen“ Leuten gegenüber zu vertreten. Andererseits stand das Wahlverhalten - vor allem in Israel - oft im Gegensatz zum Wunsch nach Frieden und zur gegenseitigen Anerkennung des Leids und des Rechts auf Existenz in einem eigenen Staat. Aber das trifft sicher auch für die Mehrheit jener palästinensischer Wähler*innen zu, die der Hamas ihre Stimme gaben. Und so wurde die israelische Friedensbewegung im Laufe der Jahre immer schwächer und schwächer.
Radikale bestimmen den Verlauf der Dinge
Bei meinen Besuchen habe ich immer wieder erlebt, wie willkürlich Palästinenser an den inneren Grenzübergängen behandelt wurden. Meinen israelischen Gesprächspartnern gegenüber bewunderte ich die Geduld und Zurückhaltung der Palästinenser. Das galt und gilt natürlich nicht für die Terroristen. Vor allem die Hamas und diejenigen - vor allem aus dem Iran -, die immer wieder zu terroristischen Aktionen aufriefen bzw. sie organisierten, tragen eine große Schuld, nicht nur für die unmittelbaren - meist jüdischen - Opfer sondern auch für das andauernde Leid der palästinensischen Bevölkerung. Es wurde nie versucht, die Spirale der Gewalt dauerhaft zu unterbrechen. Die Radikalen hatten auf beiden Seiten das Sagen.
In zahllosen Resolutionen haben wir versucht beide Seiten zur Mäßigung und zur Kompromissbereitschaft aufzurufen. Aber die im Parlament gefundenen ausgewogenen Standpunkte wurden oft von israelischer Seite kritisiert. Der Holocaust und der immer wieder aufflammende Antisemitismus in Ländern der EU wurde gegen eine aktivere Vermittlerrolle der Europäischen Union gerichtet. Und die USA selbst waren zu zurückhaltend und oft zu sehr von jenen jüdischen Organisationen beeinflusst, die Kritik an Israel vehement ablehnten. Es gab auch immer wieder andere Organisationen, nämlich solche, die für eine ausgeglichenere Haltung der USA eintraten. Sie wurden allerdings erst stärker, als in Israel selbst das „Friedenscamp“ schwächer wurde. Aber noch immer gibt es in den USA finanziell starke Organisationen, die sich in Israel einmischen und die zum Beispiel auch die politische Linie der derzeitigen religiös-reaktionären Regierung unterstützen.
Veränderungen in Israel
Tatsache ist, dass sich die politischen Verhältnisse in Israel stark verändert haben. Die Linke ist aus den letzten Wahlen immer schwächer herausgekommen. Ob dies vorwiegend als Zeichen eines allgemeinen Trends der Schwächung der Sozialdemokratie zu sehen ist, ist schwer zu sagen. Aber generell ist eine Schwächung der friedensorientierten bzw. säkularen Kräfte festzustellen. Und der „pragmatische“ und ideologiefreie aber machtbesessene Premierminister Netanyahu nützt diese Situation vor allem für sich selbst aus. Die von den radikal-religösen Gruppen geforderte Schwächung des Rechtsstaates, konkret des Obersten Gerichtshofes kommt ihm selbst angesichts der Korruptionsvorwürfe gegen ihn zu Gute. Aber gerade dieser so durchsichtige Versuch, eigene Interessen über die Interessen des Staates zu stellen, hat viele Menschen in Israel auf die Straßen getrieben.
Einer davon ist der Anwalt und Schriftsteller Yishai Sarid. In einem Interview mit der F.A.Z. stellte er kürzlich fest, dass sich in Israel nach 1948 eine Koexistenz verschiedener Kräfte entwickelt hat: „Orthodoxe, Säkulare und all die Menschen, die von überall in der Welt nach Israel kamen, hatten gelernt, irgendwie miteinander zu leben. Zumal diese Konflikte uralt sind und schon in der Diaspora existierten, ehe wir hierher kamen.“ Diesbezüglich sieht er auch ein besonderes Versagen von Netanyahu: „Denn statt zu versuchen, diese Spaltungen zu überwinden oder wenigstens einen Rahmen zu schaffen, in dem wir es miteinander aushalten können, nach dem Motto „leben und leben lassen“, nutzt er die Brüche als politisches Instrument und vertieft die Konflikte. Er hetzt die verschiedensten Gruppen gegeneinander auf und geißelt seine politischen Gegner, keine „guten Juden“ zu sein.“ Die israelische Soziologin Eva Illouz meinte dazu kürzlich, dass wahrscheinlich die säkularen Kräfte in Israel gegenüber den intoleranten religiösen Kräften zu tolerant waren. Das hat deren Spielraum erweitert und so sind sie jetzt die religiös-rechten Kräfte die einzig „guten Juden“.
So steht Israel heute - 75 Jahre nach seiner Gründung - vor besonderen Herausforderungen. Das Land ist im Inneren gespalten wie nie zuvor. Die gestärkten religiös-konservativen bis religiös-reaktionären Kräfte stehen in scharfem Gegensatz zu den säkularen Kräften. Und der gegenwärtige Premierminister Netanyahu ist kein Politiker, der imstande bzw. bereit ist, einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten. Es ist fraglich, ob der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog mehr Erfolg haben wird. Ich habe Jitzchak Herzog - auch Buji genannt in seiner Eigenschaft als Mitglied der Knesset und auch als Vorsitzenden der israelischen Labour Party mehrmals getroffen und schätze ihn als aufrechten Demokraten und fähigen Vermittler. Zuletzt traf ich ihn im Frühjahr 2014 wo wir uns in seinem Büro in der Knesset ausführlich über mögliche Friedensinitiativen unterhielten. Aber die Frage ist, ob innerhalb der israelischen Gesellschaft ein Kompromiss zwischen den beiden Lagern überhaupt möglich ist.
Palästinafrage bleibt unbeantwortet
Was den palästinensischen Grundkonflikt betrifft so ist man keinen Schritt weiter gekommen. Die Ausbreitung der Siedlungsgebiete auf der einen Seite und die auch in den jüngsten Tagen sichtbar und spürbar gewordene Zusammenarbeit der sunnitischen Hamas und der schiitischen Hizbollah und die Schwäche der Fatah auf der anderen Seite lassen keine Hoffnung auf eine Lösung aufkommen. Generell sind wir 75 Jahre nach dem UNO Beschluss, zwei Staaten aus dem britischen Mandatsgebiet heraus zu schaffen, weit entfernt, einen Staat Palästina auch nur am fernen Horizont zu sehen.
So meinte auch kürzlich der stellvertretende Generalsekretär des EU-Auswärtigen Dienstes, Enrique Mora: „Wir halten an der Zweistaatenlösung fest, aber offen gesagt - und das ist meine persönliche Meinung - weiß ich nicht, angesichts der Entwicklung vor Ort, inwieweit sie am Ende wirklich noch tragfähig sein wird.“ Und der anerkannte Journalist und Buchautor Tok Segev meinte unlängst in einem Interview im Standard, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr relevant ist: “Eine halbe Million jüdischer Siedler kann man nicht zwingen, ihre Häuser zu räumen. Und auch die Palästinenser träumen ja von einer Wiederkehr nach Haifa und Jaffa. Es ist ein Konflikt zwischen zwei Völkern mit zwei Geschichten, Kulturen, Glauben, Sprachen und Identitäten, die am gleichen Land hängen.“
Anderseits wird von beiden Seiten ein gemeinsamer Staat abgelehnt. Vor allem fürchtet man in Israel um den immer fester verankerten Charakter Israels als jüdischen Staat angesichts der stärker wachsenden arabischen Bevölkerung - obwohl gerade auch die orthodoxen jüdischen Familien sehr kinderreich sind. Auch eine Föderation von zwei Staaten mit einigen gemeinsamen Institutionen und Agenturen wird nicht ernsthaft diskutiert, obwohl gerade eine solche Konzeption einiges für sich hat. So hatte ich bei meinem letzten offiziellen Israel Besuch 2014 idealistisch gemeint: „So könnte die Lösung zwar die Existenz zweier Staaten sein, für die aber mehrere gemeinsame Regeln und Institutionen das Zusammenleben definieren und ordnen würden. Das kann von einer Regelung der für diese Region besonders heiklen Wasserversorgung über die Planung und den Ausbau der Infrastruktur gehen. Und vor allem wäre es vernünftig - so wie in Europa -, einen gemeinsamen Gerichtshof für Menschenrechte zu haben. Denn diesbezüglich gibt es besonders viele Konfliktpunkte“. Inzwischen gibt es aber auch in Israel selbst hinsichtlich des Justizsystems und der Freiheitsrechte viele Konflikte. Und von einer ernsthaften Debatte über einen pragmatischen Weg zur Lösung des Palästina Konflikts sind wir weit entfernt.“ ( Siehe dazu auch Bashir Bashir, Azar Dakwar (ed) „Rethinking the Politics of Israel/Palestine“, S&D group and Bruno Kreisky Forum )
Auch die von Donald Trump angeleierte Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten bleibt lückenhaft. Die von der Regierung unterstützten Aktionen jüdischer Aktivisten am Tempelberg in Jerusalem verärgern die jordanische Regierung in ihrer Eigenschaft als Hüterin der heiligen islamischen Stätten. Hinzu kommt, dass die angebahnte Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien durch die von China vermittelte Wiederaufnahme von Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem israelischen Erzfeind Iran zumindest unterbrochen ist.
Weiters ist zu bedenken, dass der Einfluss des Westens in der gesamten Region zurückgegangen ist. Der Bürgerkrieg in Syrien hat nicht nur den Einfluss des Iran verstärkt sondern auch die Position Russlands. Und wie man an der Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien sieht, spielt auch China eine wachsende Rolle. Auch Israel selbst ist interessiert, seine schon traditionell guten Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden - zum Beispiel durch eine Unterstützung der Ukraine. Und es hat großes Interesse die Beziehungen zu China auszubauen. So spiegelt die Region wieder was schon in vielen Regionen der Welt abzulesen ist. Der Einfluss des Westens geht zurück und der Einfluss Chinas und Russlands - in diesem Fall trotz der Aggression gegen die Ukraine - nimmt zu. Und im Schatten dieser geopolitischen Entwicklung haben fundamentalistische und autoritäre Kräfte einen größeren Spielraum. Jedenfalls ist das in Israel der Fall. Und der Palästina Konflikt bliebt wieder einmal weit entfernt von einer Lösung. Und das gibt auch den radikalen Kräften auf dieser Seite einen neuen Auftrieb.
P.S. Am 27.4. um 12.00 Uhr diskutiere ich mit Ofer Salzberg und Tirza Kelman im Rahmen eines Zoom Webinars und auf Facbook live über „Israel‘s Domestic and International Challenges on its 75th Anniversary: Tectonic Shifts and Policy Dilemmas“ organisiert vom IIP und dem Herbert C. Kelman Institut. Bitte um Anmeldung und Teilnahme.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.