2022: Das Jahr der drei Kriege?

Veröffentlicht im DERSTANDARD, am 05.01.2022

In der Ukraine, in Taiwan und im Iran könnten die Krisen eskalieren


Auch dieses Jahr wird kein friedliches sein. Einige internationale Medien spekulieren über drei mögliche – neue – Kriege. 2022 wird ohnedies die Fortsetzung des Krieges im Jemen sowie der Kämpfe im Osten der Ukraine, in mehreren Ländern Afrikas wie vor allem in Äthiopien bedeuten. Dennoch befürchten manche Kommentatoren drei weitere kriegerische Auseinandersetzungen, und leider sind sie nicht völlig unwahrscheinlich.

Ausweitung des Ukraine-Konflikts

Gerade in den letzten Wochen hat sich der Konflikt um die Ukraine zugespitzt. Der massive Truppenaufmarsch in Russland nahe der ukrainischen Grenze ist sicher besorgniserregend. Man sollte ihn weder in der Ukraine noch im Westen herunterspielen. Jedoch verspüren einige Hardliner gerade Lust, ihn als Vorbereitung einer unmittelbar bevorstehenden Invasion darzustellen. Anderseits sehen selbst gegenüber Russland kritisch eingestellte Ukrainer mehr als eine Drohgebärde des russischen Präsidenten Putin, um ein lang gehegtes Ziel zu erreichen. Putin möchte jeder weiteren Ausweitung der Nato zuvorkommen. Und vor allem eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato ist ein rotes Tuch für ihn. Was er nicht zur Kenntnis nimmt, ist, dass das Verlangen, der Nato beizutreten, gerade durch die russische Intervention im Osten der Ukraine und durch die Annexion der Krim erst gestiegen ist.


Aber der russische Präsident denkt, wie viele russische Herrscher vor ihm, in simplen Machtkategorien. Dabei kongruieren die Ausübung und Erweiterung der inneren und äußeren Macht miteinander. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat keine radikale Veränderung gebracht. Schon unter Präsident Jelzin ist – mit tatkräftiger und vor allem auch finanzieller Unterstützung durch den Westen – ein System der Machtteilung zwischen Oligarchen und autoritärer politischer Macht entstanden. Putin als von Jelzin autoritär eingesetzter Nachfolger hat das Gewicht zugunsten der Politik verschoben, aber im Prinzip das System einer Machtteilung zwischen Politik und Oligarchie gleich gelassen.

Ein solches politisches System ist immer versucht, auch außenpolitisch "machthungrig" aufzutreten. Dabei geht es nicht so sehr um die Eroberung neuer Gebiete. Von allen Gebieten, die Russland "eroberte", hat es keinen direkten Nutzen – außer vielleicht der Krim. Das System Putin verträgt jedoch nicht die Expansion eines strukturell anders orientierten Systems in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Nato und EU stellen zwar keine unmittelbare militärische, aber doch eine politische und vor allem gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Was bleibt also zu tun, um den Frieden zu wahren?

Das System Putin kann weder militärisch noch durch Sanktionen zu Fall gebracht werden. Sanktionen sind schmerzlich, aber es gibt immer Umgehungsmöglichkeiten. Und manche Sanktionen sind für Europa – denken wir an Öl- und Gaslieferungen von Russland – selbst schmerzhaft. Veränderungen können nur interne russische Kräfte erreichen. Deshalb gilt es jetzt, mit Vernunft und nicht als Überlegene zu handeln. Es ist zu hoffen, dass vor allem Präsident Biden ernsthafte Gespräche zwischen Nato und Russland und soweit möglich auch zwischen Russland und der Ukraine herbeiführt, um eine Entspannung zwischen dem Westen und Russland zu erwirken. Dann könnte sogar die jetzige Krise zu einer neuen friedlichen Koexistenz in Europa führen. Und von der Koexistenz ausgehend könnten dann weitere Schritte zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur gesetzt werden. Vor allem sollte dabei die in Wien angesiedelte OSZE wieder funktionsfähig gemacht werden.

Taiwans Selbstständigkeit in Gefahr?

Taiwan ist seit langem in einer besonders prekären Lage. Es wird von wenigen Staaten als eigener Staat anerkannt, aber auch nicht als Teil der chinesischen Volksrepublik. Diese lässt aber keinen Zweifel daran, dass Taiwan zu China gehört, und pocht auf die Wiedervereinigung mit dem Festland. Ganz unähnlich sind sich die jeweils politischen chinesischen Ansprüche an Taiwan und die russischen an die Krim nicht. Aber abgesehen davon, dass die Krim zum Zeitpunkt der Annexion durch Russland ein Teil eines allgemein anerkannten Staates war, gibt es keine Anzeichen, dass die Bevölkerung Taiwans diese Wiedervereinigung mit der Volksrepublik anstrebt. Und die Art und Weise, wie China mit den Grund- und Freiheitsrechten in Hongkong nach der Wiedervereinigung umgeht, ist nicht gerade eine Einladung an die Taiwanesen.

Für China gilt dasselbe wie für Russland. Die autoritäre Führung, die sich unter Präsident Xi Jinping noch verstärkt hat, verträgt selbst in der Nachbarschaft keine Herausforderungen durch erfolgreiche Alternativen. Vor allem ist das Muskelspielen nach außen eine gute Ablenkung von inneren Problemen. Und die Transformation der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung eines Sozialstaats und der ökologischen Nachhaltigkeit sind in diesem Land eine große Herausforderung. Die wird zwar nicht durch die massive Aufrüstung gelöst, aber diese scheint der chinesischen Führung notwendig, um glaubwürdig mit der Annexion Taiwans zu drohen. Auch diesbezüglich dürfte es mehr um Drohgebärden gehen als um direkte Vorbereitungen eines Angriffs. Für eine Besetzung und Annexion würde China sicherlich einen hohen Preis zahlen müssen. Allerdings wäre Taiwan eine sehr wertvolle Eroberung. Denn diese Insel ist der bedeutendste Chiphersteller der Welt und auch in anderen technologischen Sektoren führend. China würde sich durch die Verfügung über Taiwans technologische Kapazitäten einen großen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Für den Westen bedeutet das einerseits große Wachsamkeit und anderseits verstärkte – militärische, politische und wirtschaftliche – Allianzen in der Umgebung Chinas zu schmieden. Aber auch hier ist eine primitive Anti-China-Politik wenig sinnvoll. Inhaltsleere Gesten, die trotzdem China ärgern, wie der "diplomatische" Boykott der Olympischen Spiele, sollten besser unterbleiben. Europa sollte sich klar gegen chinesische Einflussnahme auf europäische Entscheidungen und kritische Unternehmen wehren, aber die Zusammenarbeit in wichtigen globalen Fragen suchen. Und trotz der negativen Erfahrungen mit Hongkong sollte weiter auf eine friedliche Lösung der Taiwan-Frage hingewirkt werden.

Atommacht Iran?

Die Kündigung des Atomabkommens JCPOA mit dem Iran durch Präsident Trump war eine der vielen politischen Dummheiten des letzten US-Präsidenten. Aber sie war nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Der Iran nahm diese Aufkündigung zum Anlass, weitere Schritte in Richtung der technischen Vorbereitung zur Produktion einer Atombombe zu setzen. Inzwischen sehen auch einige Anhänger der Trump'schen Politik ein, dass die einseitige Aufkündigung des Abkommens die Gefahr einer atomaren Rüstung des Iran nicht geschmälert, sondern erhöht hat. Nun ist es schwierig, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

In diesem Fall sind es die Verknüpfung der inneren autoritären Strukturen im Iran mit äußeren Machtbestrebungen, die es schwierig machen, zu einem konstruktiven Verhandlungsergebnis zu kommen. Nicht zuletzt in Folge der militärischen Interventionen der USA in Afghanistan und vor allem im Irak sah und sieht sich der Iran gestärkt. Hinzu kommt das Scheitern der Versuche, den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen, was mithilfe Russlands und des Irans verhindert wurde.

Wie immer die Verhandlungen mit dem Iran verlaufen, sind es vor allem israelische Entscheidungsträger, die – wieder einmal – mit einem militärischen Angriff auf den Iran spekulieren. Auch der jetzigen Regierung scheinen die Cyberangriffe und die gezielten Tötungen von Nuklearwissenschaftern zu wenig, um den Iran vom Bau einer Atombombe abzuhalten. Wahrscheinlich sind es jetzt die neuen arabischen Freunde, zum Beispiel aus den Vereinigten Emiraten, die die Israeli von solchen Angriffen abhalten. So haben die Abraham-Vereinbarungen zu besseren Beziehungen mit einigen arabischen Ländern geführt, aber keinen Freibrief für militärische Interventionen ausgestellt. Auch die betroffenen arabischen Staaten sind dem Iran nicht wohl gewogen, aber sie wollen keinen neuen regionalen Brandherd. Wichtig wäre vielmehr, dass alle Staaten, auch der Iran und die Atommacht Israel daran arbeiten, aus dem gesamten Nahen Osten eine atomwaffenfreie Zone zu machen!

Ist der Frieden noch zu retten?

2022 beginnt nicht gut. Die drei hier erwähnten Krisenherde kommen zu anderen noch dazu. Und neue können rasch entstehen, vor allem können sich eingefrorene Konflikte jederzeit entzünden! Wie wir zuletzt gesehen haben, gebärden sich sogar Friedensnobelpreisträger wie der äthiopische Präsident martialisch. Und auch relativ demokratische Länder wie die USA haben in der Vergangenheit internationales Recht verletzt und einen Krieg begonnen. Und Israel ist nach wie vor nicht bereit, auf die Palästinenser zuzugehen und einen Frieden zu schließen.

Aber derzeit bauen vor allem autoritär regierte Länder Drohkulissen auf beziehungsweise sind schwer auf eine friedliche Konfliktlösung einzuschwören. Und dennoch ist der Frieden zu retten, wenn der Westen – also die USA und die Europäische Union – eine aktive Friedenspolitik betreiben. Die militärische Wachsamkeit muss dabei in allen Fällen durch eine Dialogbereitschaft begleitet werden. Der Westen sollte sich nicht am Aufbau von Drohgebärden beteiligen. Und er sollte unermüdlich daran arbeiten, wirtschaftlich, sozial und politisch beispielgebende Lösungen zu erreichen. Nur die eigene Stärke – und zwar nicht ausschließlich militärisch – kann den Frieden bewahren! Dabei sollten wir auch andere Staaten davon überzeugen, dass man mehr erreichen kann, wenn man an die Nachbarn Angebote macht, als wenn man mit militärischen Interventionen droht.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.