Präsident Biden setzte, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, sein Versprechen um, die US-Soldaten und Soldatinnen aus Afghanistan abzuziehen. Diese Entscheidung beruhte auf der Erkenntnis, dass „wir nicht glauben, dass militärische Gewalt die Antwort auf die Herausforderungen in der Region ist“.[1] Das Ergebnis dieses zwanzigjährigen Krieges hat weitgehend den Vorkriegszustand wieder hergestellt. Die Terrororganisation Al-Qaida und die Taliban waren keine Einheit. Al-Qaida zu bekämpfen, war im Wesentlichen mit Kommandooperationen und meistens außerhalb von Afghanistan erfolgreich. Eine weitreichende Invasion wäre nicht notwendig gewesen. Die Tötung von Osama bin Laden in Pakistan durch eine Spezialeinheit ist das bezeichnendste Beispiel dafür. Die Taliban wären auch bereit gewesen, Osama bin Laden an irgendein Land, außer an die USA, auszuliefern.[2] Joseph Biden machte bei einer Pressekonferenz am 8. Juli 2021, klar[3], dass die Ziele der USA erreicht worden seien. Al-Qaida hätte keine Basis mehr in Afghanistan, wovon Gefahr für die USA ausgehen könnte, und Osama bin Laden wurde ausgeschaltet. Die USA wären ja niemals in Afghanistan gewesen, um Wiederaufbau zu leisten („to nation-building“).[4]
Für die USA gab es letztlich keine Alternative, als die Truppen abzuziehen. Ein weiteres Hinauszögern um Monate und Jahre hätte keine Veränderung gebracht. Joseph Biden hatte den Mut, diese Erkenntnis umzusetzen. Wie bei allen Kriegen, die nicht gewonnen werden, werden die Amerikaner auch kriegsmüde. Präsidenten, die ein Ende der Kriege versprachen, haben auch die darauffolgenden Wahlen gewonnen. Das traf auf Dwight Eisenhower und den Koreakrieg, auf Richard Nixon und den Vietnamkrieg sowie Barack Obama und den Irakkrieg zu. Siebzig Prozent der Amerikaner befürworten den Abzug aus Afghanistan.[5] Bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen wird sich auch die Kritik am Abzug gemildert haben.
Enttäuschte Europäer
Erst nachdem Präsident Joseph Biden den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan angekündigt hatte, folgten die NATO-Europäer nach. Sie hatten sich völlig auf die Informationen der US-Nachrichtendienste verlassen, die die Stärke der Regierungstruppen und die Stabilität der Regierung überschätzten, und die Fähigkeiten der Taliban unterschätzten. Die NATO-Europäer hatten ihren Einsatz in Afghanistan mit der Beistandspflicht des Bündnisses gerechtfertigt. Ihre vermeintliche Bündnistreue wurde aber nicht belohnt. Die erste Initiative der Regierung Biden in Westasien im März 2021, eine Konferenz der Vereinten Nationen über Afghanistan einzuberufen, erfolgte ohne Einbeziehung Europas, obwohl seit zwanzig Jahren auch Soldaten und Soldatinnen aus europäischen Ländern in Afghanistan stationiert waren. Vertreten waren neben den USA, die Türkei, Pakistan, China, Russland, Indien und der Iran. Auch zu weiteren Initiativen war die EU nicht eingeladen. Länder eines erweiterten Troika-Formates, das ursprünglich 2019 ins Leben gerufen worden war[6], trafen sich im August 2021, um die innerafghanische Situation nach dem Abzug der USA zu besprechen. Vertreten waren neben Vertretern der afghanischen Regierung und der Taliban, Russland, China, Pakistan und die USA. Europa, das neben dem Iran und Pakistan hauptsächlich von der bevorstehenden Flüchtlingswelle betroffen sein würde, war nicht eingeladen. Im Gegenteil, die EU hätte selbst diese Initiative ergreifen müssen.
Aber gerade das hatten die Europäer geglaubt, wozu sie in Afghanistan wären. Der frühere deutsche Verteidigungsminister Peter Struck drückte es 2002 so aus „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Damit meinte er nicht nur die Bekämpfung des Terrorismus, sondern auch den Schutz beim Aufbau der Infrastruktur oder Schulen. „Unsere Sicherheit wird größer, wenn sich die Bundeswehr mit Erfolg am Wiederaufbau unter demokratischen Vorzeichen auf dem Balkan und in Afghanistan beteiligt, indem sie hilft, dort das dringend benötigte sichere Umfeld zu schaffen.“[7] Der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan beruhte auf der Erkenntnis, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen sei, weil die Taliban zu sehr in der Gesellschaft verankert waren. Eine derartige Einschätzung wurde von Nachrichtendiensten aus EU-Staaten schon viel früher getroffen. Darunter war übrigens auch der österreichische; deswegen war die österreichische Beteiligung an den internationalen Truppen im Gegensatz zu den NATO-Truppen militärisch unerheblich. Dennoch entschieden sich die NATO-Verbündeten, mit den USA den Krieg weiterzuführen.
Vietnamanalogie
Die Verantwortung für die Sicherheit wurde nun den lokalen Kräften übergeben. Diese Strategie wurde schon von Präsident Nixon angewendet,[8] als er vor dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam 1975 die „Vietnamisierung“ Südvietnams ankündigte, was die Übernahme durch die nordvietnamesischen Truppen ermöglichte. Ähnlich haben die Taliban in Afghanistan die Macht im August 2021 übernommen. Vietnam blieb ein kommunistischer Staat. Die USA nahmen 1995 diplomatische Beziehungen mit Vietnam auf, die sich seit Jahrzenten weiterentwickelten. Das ist umso erstaunlicher, als sechzigtausend amerikanische Soldaten in diesem Krieg gefallen waren. Die amerikanische Erzählung über das Trauma der Geiselnahme im Iran von 1979, bei dem es keine Opfer gab, hält aber an. Wenn es ihren geopolitischen Interessen entspricht, würden sich die USA auch mit einer Taliban-Regierung arrangieren, wie sie es auch mit Saudi-Arabien taten. Sie könnten etwa ein Gegengewicht gegen den Iran aufbauen wollen. Das sunnitische Saudi Arabien könnte ein williger Verbündeter gegen den schiitischen Iran sein.[9]
Der Ankündigung Präsident Bidens, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, folgte im Juli 2021 die die Kampftruppen aus dem Irak abzuziehen. Die Wichtigkeit des Mittleren Ostens für die USA wurde zunehmend durch die Großmachtkonkurrenz verdrängt. Wenn allerdings die Spannungen mit dem Iran zunehmen, wird der Mittlere Osten plötzlich wieder auf der Prioritätenlist nach oben gereiht werden müssen.
Neutralität statt Vakuum
Von Experten wird immer wieder die Befürchtung eines „Vakuums“ angesprochen, das von Russland und China gefüllt werden würde. Diese Vorstellung ist sehr kurzsichtig, da weder russische noch chinesische Truppen in Afghanistan einmarschieren werden. Es wäre traurig, wenn die westlichen Werte nur mit Truppen durchgesetzt werden könnten. Alle internationalen und regionalen Staaten werden aber ihren politischen Einfluss geltend machen wollen. Damit sich aber internationale Einflussnahmen im Sinne des Kalten Krieges nicht wiederholt, wird Afghanistan einen glaubwürdigen neutralen Kurs verfolgen müssen. Präsident Jimmy Carter hatte 1979 einen Vorschlag für ein neutrales Afghanistan als Alternative zur sowjetischen Besetzung gemacht.[10] Für die Sowjetunion wie auch die USA wäre das damals tatsächlich die bessere Alternative gewesen. Die Großmächte sollten die Lehre daraus ziehen. Solange sich keine terroristischen Organisationen in Afghanistan einnisten, was die Taliban versprochen hatten, wäre ein neutrales Afghanistan nach dem Abzug der ausländischen Truppen, das von den USA, China, Russland, und der EU garantiert werden sollte, die beste Option für alle.
Eine regionale Alternative wäre eine regionale Sicherheitskonferenz über den Mittleren Osten mit Beteiligung der Großmächte nach dem Modell der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nach 1975 verbunden mit einem regionalen Nichtangriffspakt und mit vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen. Ein derartiger Prozess müsste einen gewissen Wertekatalog enthalten, wie ihn auch die Sowjetunion unterzeichnet hatte. Die EU sollte diese Initiative ergreifen. Österreich als neutraler Staat wäre ein idealer erster Gastgeber eines derartigen Prozesses.
[1] The White House (March 2021), Washington, Interim National Security Guidance.
[2] John Mueller (2021), The Stupidity of War: American Foreign Policy and the case for complacency (Cambridge: Cambridge University Press), 97-120, hier 99-100.
[3] The White House (July 8, 2021), Remarks by President Biden on the Drawdown of U.S. Forces in Afghanistan,
https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/07/08/remarks-by-president-biden-on-the-drawdown-of-u-s-forces-in-afghanistan/.
[4] Präsident Biden wiederholte diese Argumente bei einer Pressekonferenz am 16. August 2021.
[5] Dina Smeltz and Emily Sullivan (August 9, 2021), US Public Supports Withdrawal From Afghanistan, Chicago Council on Global Affairs,
https://www.thechicagocouncil.org/commentary-and-analysis/blogs/us-public-supports-withdrawal-afghanistan.
[6] James M. Dorsey (March 11, 2021), Russia foreign minister’s Gulf tour: A bellwether of US-Saudi relations, Responsible Statecraft,
Russia foreign minister’s Gulf tour: A bellwether of US-Saudi relations – Responsible Statecraft.
[7] Die Bundesregierung (20. Dezember 2002), Rede des Bundesministers der Verteidigung Dr. Peter Struck zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 20. Dezember 2002 in Berlin: Bulletin 104-2
https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministers-der-verteidigung-dr-peter-struck--784328.
[8] Heinz Gärtner (2017), Der Kalte Krieg (Wiesbaden: marixverlag), 64-65, 96-106.
Vgl. auch Michael Hirsch (July 9, 2021), Is Biden Haunted by Vietnam? Should He Be? Foreign Policy,
https://foreignpolicy.com/2021/07/09/is-biden-haunted-by-vietnam-should-he-be/?utm_source=PostUp&utm_medium=email&utm_campaign=34541&utm_term=Editors%20Picks%20OC&tpcc=34541.
[9] James M. Dorsey (August 8, 2021), Afghanistan may be a bellwether for Saudi-Iranian rivalry, Responsible Statecraft.
[10] Todd Greentree (February 5, 2019), Afghanistan: Remembering the Long, Long War We Would Rather Forget, Texas National Security Review,
https://warontherocks.com/2019/02/afghanistan-remembering-the-long-long-war-we-would-rather-forget/.
Weitere Interviews zum Thema:
Puls 24: ‘Gärtner zu Afghanistan: Es wird eine "chaotische" Übergangsphase geben‘
Univ. Prof. Dr. Heinz Gärtner is a lecturer in the Department of Political Science at the University of Vienna and at Danube University. He was academic director of the Austrian Institute for International Affairs. He has held various Fulbright Fellowships and the Austrian Chair at Stanford University. He was Austrian Marshall Plan Foundation Fellow at the Johns Hopkins University in Washington DC. Among other things, Gärtner chairs the Strategy and Security advisory board of the Austrian Armed Forces and the Advisory Board of the International Institute for Peace (IIP) in Vienna. He has published widely on international security, nuclear non-proliferation and disarmament, US foreign policy, geopolitics, Iran, and the Middle East.