Fast alle zehn Jahre gibt es in den USA eine Debatte darüber, ob sich die Großmacht USA im Abstieg befinden. Die Debatte beschränkt sich nicht nur auf Wissenschaftler und Experten, sondern erreicht auch regelmäßig die politischen Entscheidungsträger. In den 1970ern anerkannte der damalige US-Außenminister Henry Kissinger, dass es mehrere Mächte in der Welt gebe: neben den USA auch noch China, die Sowjetunion, Japan und Europa. Natürlich blieben die USA der Primus inter pares.
Der Historiker Paul Kennedy hat dann mit seinem populärwissenschaftlichen Buch "Aufstieg und Fall von Großmächten" in den 1980ern so viele Befürchtungen ausgelöst, dass er in den US-Senat zu einem Hearing eingeladen wurde. Der Politologe Joseph Nye versuchte, in seinem Buch "Zur Führung verpflichtet" zu beruhigen. Er sah im relativen Verlust der Stellung der USA in der Weltwirtschaft einen natürlichen Ausgleich durch den Aufstieg der vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Länder, wie Japan und Deutschland. Nichtsdestoweniger prophezeite der Leiter eines privaten Nachrichtendienstes, George Friedman, "den Krieg mit Japan".
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR führte US-Präsident Bill Clinton nochmals eine schier ungebremste Globalisierung an, und zu Beginn der Ära George W. Bushs beobachtete der Politologe Charles Krauthammer ein "unipolares Moment" der USA. Während des Irak-Krieges nach 2003 entfernte sich der Präsident vom Multilateralismus der Vereinten Nationen, als er sie vor die Alternative stellte, seinen Krieg zu unterstützen oder irrelevant zu werden. US-Präsident Barack Obama versuchte dann, zum Multilateralismus zurückzukehren, "soweit es möglich ist".
Abkehr vom Multilateralismus
US-Präsident Donald Trump verließ die meisten internationalen Verträge, wie das Nuklearabkommen mit dem Iran und den Vertrag über Mittelstreckenraketen, und er attackierte multilaterale Institutionen, wie die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den Internationalen Strafgerichtshof. In Trumps Präsidentschaft bekam der Großmächtekonflikt Vorrang. China wird als globale wirtschaftliche und politische Bedrohung gesehen, Russland als nukleare. Gegenüber dem Iran wurde eine drastische Sanktionspolitik verfolgt und der iranische General Soleimani ermordet, was aber nicht zur erwünschten Änderung der Politik im Iran führte.
Gleichzeitig wurden die Europäer mit Sekundärsanktionen belegt, falls sie den Atomdeal mit dem Iran einhalten wollen, den sie selbst mitverhandelt haben und als Musterbeispiel für effektiven Multilateralismus betrachten. Ebenso brachten weder der "maximale Druck" auf Nordkorea ("Feuer und Zorn") noch die freundschaftlichen Treffen Trumps mit Kim Jung-un in Singapur und Hanoi eine nukleare Abrüstung der koreanischen Halbinsel.
Die inneren Schwächen sowie die Abkehr vom Multilateralismus führen dazu, dass für die Europäer die USA immer mehr an Glanz verlieren. Europa hatte nach 1945 ein sehr vorteilhaftes Bild von den USA entwickelt. Die USA hatten in die beiden Weltkriege eingegriffen, die westliche Führungsmacht gegen den kommunistischen Block übernommen und den Europäern mit dem Marshall-Plan geholfen. Während der Grausamkeiten des Vietnam-Krieges machten die Europäer beide Augen zu. Der Irak-Krieg nach 2003 wurde mit falschen Argumenten geführt, was ein Großteil der Europäer schließlich nicht mehr mittragen konnte.
Das Ende des Exzeptionalismus
Wieder unternahm der Politologe Nye einen Rettungsversuch mit seinem Konzept der "Soft Power", der Anziehungskraft der USA von nicht-militärischen Machtfaktoren. Die USA führten weltweit mit den besten Universitäten, in der Hochtechnologie und der Populärkultur. Spätestens während der Präsidentschaft Trumps stellte sich heraus, wie selektiv diese Auswahl ist. In vielen anderen Bereichen haben die USA keinesfalls diese Attraktivität, zumindest für europäische Länder. Das sind etwa die zerbröckelnde Infrastruktur und sterbende Städte in vielen Gegenden, das für einen Großteil der Amerikaner unzureichende Sozial- und Gesundheitssystem, Ungleichheit, schlecht ausgestattete Mittelschulen, Polizeigewalt sowie die durch das Wahlchaos sichtbar gewordene Krise des politischen Systems. Die USA liegen beim Index für Pressefreiheit lediglich an 45. Stelle.
Für den weitaus größten Teil der US-Bürger kann der "Amerikanische Traum" schon lange nicht mehr geträumt werden. In der Ära Trump, insbesondere in der Corona-Krise, wurden die Abstiegstendenzen der USA nicht mehr nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch in kultureller und politischer Hinsicht deutlich. Das bedeutet freilich nicht, dass die USA ihren Großmachtstatus verlieren. Sie werden aber nicht mehr die selbstzugeschriebene außergewöhnliche Stellung (Exzeptionalismus) einnehmen können und ein normaler Staat werden müssen. Präsident Obama versuchte, diese Erkenntnis anzusprechen, indem er allen Staaten einen aus ihrer eigenen Sicht außergewöhnlichen Status zugestand. Hier könnte der nächste Präsident Joe Biden wieder anknüpfen.
Außenpolitisch verschärfte Trump - vorerst rhetorisch - die Spannungen mit China. Es zeichnet sich ein Hegemonialkonflikt mit dem Aufsteiger ab. Laut dem Historiker Graham Allison führen derartige Konflikte in zwei Dritteln der untersuchten Fälle zu militärischen Auseinandersetzungen, was er als "Thucydides-Falle" (nach dem Modell des Krieges zwischen Athen und Sparta) bezeichnet. Die Welt bewegt sich auf eine Polarisierung ohne multilaterales Netz zu. Der Journalist Fareed Zakaria hält aber in einem neuen Buch "eine bipolare Welt ohne Krieg" für möglich.
Was tut Europa, wenn es zu militärischen Konflikten zwischen den USA und China kommt? Mit China werden die meisten europäischen Staaten keine Allianz eingehen. Aber sich an der Seite der USA in einen Konflikt oder gar Krieg hineinziehen zu lassen, wäre für Europa eine desaströse Entscheidung. Die logische Lösung wäre es, neutral zu bleiben, wozu Österreich ohnehin verpflichtet ist. Einige Staaten würden zu den Nato-Bündnisverpflichtungen stehen, andere nicht. Das würde zur Spaltung der Nato führen, insbesondere dann, wenn sich die EU neutral verhielte.
Schärfe gegenüber China
Was wird sich unter Präsident Biden außenpolitisch ändern? Biden wird wieder zu einer diplomatischen Sprache zurückfinden und weniger mit Sanktionen arbeiten. Der Konflikt der USA mit China ist aber strukturell, und Biden hat keine Anzeichen gemacht, ihn zu entschärfen. Auch gegenüber Nordkorea wird Biden den Kurs wieder verschärfen, nachdem er Trump beschuldigt hat, gegenüber Kim eine "Appeasement"-Politik zu verfolgen. Biden hat zwar angekündigt, zum unter Obama ausgehandelten Atomdeal mit dem Iran zurückzukehren, er will aber einen erweiterten Vertrag aushandeln. Im Iran gibt es aber bereits Zweifel, ob man mit den USA überhaupt verhandeln soll, da man sich nicht auf deren Vertragstreue verlassen kann. Im Mittleren Osten wird Biden wohl im Gegensatz zu Trump wieder die Zwei-Staaten-Lösung auf die Tagesordnung setzen, gleichwohl er die US-Botschaft in Jerusalem belassen wird.
Biden wird wieder in der WTO und der WHO arbeiten und hat angekündigt, zum Pariser Klimaabkommen zurückkehren. Der Multilateralismus Bidens wird aber an Grenzen stoßen. Neue Rüstungskontrollverträge wird es nicht geben, da dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig wäre, die nicht zu erreichen sein wird. Die republikanischen Senatoren werden nicht Verträgen zustimmen, die von Demokraten ausgehandelt wurden. Das gilt übrigens auch für das Pariser Klimaabkommen. Der Präsident kann zwar mit Dekreten regieren, die aber vom nächsten Präsidenten wieder zurückgenommen werden können. Das wird Russland und China nicht reichen.
Die vom künftigen US-Präsidenten Biden angekündigte Allianz von Demokratien schließt einen großen Teil der Welt aus und ist per definitionem nicht multilateral. Er wird sich wieder auf das Nato-Bündnis konzentrieren, das aber Russland und China antagonistisch gegenübersteht. Biden wird diplomatischer und teilweise multilateraler handeln. Die Weltordnung wird mit einem US-Präsidenten Biden aber nicht kooperativ, sondern kompetitiv sein.