Der im Osten der Ukraine seit vier Jahren bestehende Konflikt „niedriger Intensität“ ist, wie überhaupt die Lage in diesem Land und um es herum, weitgehend vom Radar internationaler medialer Berichterstatter verschwunden. Nur gelegentlich erinnern Ereignisse wie die Eröffnung einer 19km langen Brücke zur annektierten Krim durch Putin persönlich oder kuriose Vorfälle wie der vorgetäuschte Mord an einem Kreml-kritischen Journalisten in Kyiv an die doch reichlich prekäre und spannungsgeladene Situation mit ihren Ausstrahlungen über die Region hinaus.
Bereits seit vier Jahren tobt ein bewaffneter Konflikt im Osten der Ukraine, mitten in Europa, angrenzend an vier EU-Staaten. Er ist längst von den Titelseiten europäischer Tageszeitungen verschwunden, das internationale Augenmerk richtet sich seit dem verstärkten Engagements Russlands in Syrien auf die Situation im Nahen und Mittleren Osten. Geschätzte 10.000 Menschen sind seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts zwischen den ukrainischen Streitkräften, den Separatisten in den sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donetsk sowie russischen Kräften umgekommen. Russland hat sich nie öffentlich zu seiner Rolle im Konflikt im Donbass bekannt. Beinahe zwei Millionen UkrainerInnen sind Binnenflüchtlinge (IDPs), aufgeteilt zwischen Kiew (fortan Kyiv) und nahe der Kontaktlinie auf regierungskontrolliertem Boden, geschätzt eine weitere Million Menschen haben in Russland Zuflucht gefunden. Die humanitäre Lage auf beiden Seiten der Front ist erschütternd. Von der OSZE-Beobachtermission werden täglich Waffenstillstandsverletzungen beider Konfliktparteien registriert. Laut UN- Kinderhilfsorganisation UNICEF gehört die Ostukraine zu den am meisten mit Minen belasteten Gebieten der Welt (Bericht vom Dezember 2017). Ca. 30-40.000 Menschen überqueren täglich einen der fünf Checkpoints an der Front alias Kontaktlinie und sind dabei vielen Wartestunden, Korruption und teilweise auch Schikanen auf beiden Seiten ausgesetzt.
Die Ukraine ist nicht Russland:
Im Spannungsfeld einer europäischen Zukunft und sowjetischer Vergangenheit
Im Vorwort zu seinem Buch Ukraine: Different from Russia, hebt Leonid Kutschma, zweiter ukrainischer Präsident nach der Unabhängigkeit bzw. Implosion der Sowjetunion (1991), hervor, das größte Problem für die Ukraine sei die Bildung einer ukrainischen Identität und ukrainischer Werte - angesichts jahrhunderelanger Affiliation mit dem Russischen Reich und mehrerer Dekaden als sowjetische Republik (vgl. Shkundin 2004). Die aus solchen historischen Verflechtungen resultierenden Folgen haben sich aber die längste Zeit nicht entscheidend auf das Zugehörigkeitsgefühl zu einer ethnischen Gruppe ausgewirkt. Denn selbst im vorwiegend Russisch-sprachigen Donbass bezeichneten sich vor 17 Jahren ca. 65% als ethnische UkrainerInnen und nur 40% als Russen. Auch in Kyiv sprechen viele der sich als UkrainerInnen fühlenden BewohnerInnen im Alltag Russisch.
Es handelt sich also nicht, um einen ethnischen und auch nicht um einen religiösen Konflikt. Vielmehr ist für die Deutung der Konfliktlinien auf komplexe Zusammenhänge zu schließen: zwischen kollektivem Gedächtnis, besser im Plural: Gedächtnissen, verhaftet in vielen (negativ wahrgenommenen) historischen Erfahrungen, unterschiedlichen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklungen im Westen und Osten des Landes, einer aktiven „Zivilgesellschaft“ auf der einen Seite, geopolitischen Interessen der Großmächte und der EU, sowie der Gestaltung eines jungen ukrainischen Nationalstaats auf der anderen Seite.
Es wäre zu vereinfacht gesagt, dass die Menschen im Osten des Landes Russland unterstützen, während sie in der Westukraine einen starken ukrainischen Nationalstaat befürworten. Seit dem „Euromaidan“ 2014, der sogenannten Revolution der Würde, benannt nach dem vom Westen medial und finanziell maßgebend unterstützten Umsturz („regime change“), scheint es diese Trennung aber in zunehmendem Ausmaß zu geben. Dies hängt konkret weniger mit nationalistischem Denken als mit persönlichen und sozioökonomischen Beziehungen und einer gemeinsamen Geschichte zusammen, obwohl auch hier der Konflikt paradoxerweise zu einer Konsolidierung der ukrainischen Nationalität führt – ein Feind nach außen stärkt bekanntlich die Konsolidierung nach innen.
So folgten auf den überraschenden Schwenk Präsident Janukowitschs gegen das Assoziierungsabkommen mit der EU Ende 2013 sein Sturz und die vom russischen Militär gestützte Aktion, mit der die ukrainische Halbinsel Krim – völkerrechtswidrig - durch Russland annektiert wurde. Dabei kann die Ukraine unter anderem den Bruch des Budapester Memorandums von 1994[1] geltend machen, in dem Russland im Austausch für das auf ukrainischem Staatsgebiet befindliche Atomwaffenarsenal die Souveränität der Ukraine in den vereinbarten Grenzen anerkannte. Mit der Krim sicherte sich Russland nicht nur eine attraktive Insel im Schwarzen Meer, sondern vor allem den dauerhaften Hauptstützpunkt seiner Schwarzmeerflotte in Sewastopol – sollte der 2010 abgeschlossene Verlängerungsvertrag bis 2042 torpediert werden. Dieser hatte schon in der Vergangenheit immer wieder für Irritationen in den ukrainisch-russischen Beziehungen gesorgt. Gleichzeitig wurde über eine Invasion der Ostukraine durch „grüne Männchen“ samt schweren Waffen und Artillerie sowie später die Ausrufung der unabhängigen Volksrepubliken Donetsk und Lugansk berichtet. Russland unterstütze durch asymmetrische Kriegsführung und mit paramilitärischen Kräften den Aufstand im Osten, so das ukrainische Narrativ, das wohl nicht vollständig von der Hand zu weisen ist.
Eine tief historisch verwurzelte Furcht wurde für viele UkrainerInnen ebenso überraschend, wie für den Rest der Welt, zu einer Realität. Die Ukraine ist seit dem Ausbruch der Krise in existenzielle Not geraten und im Westen war plötzlich von einem neuen Kalten Krieg die Rede. Die große internationale Vertrauenskrise war geschaffen. Für die Ukraine, allerdings, ist das eingetreten, das sie seit der Unabhängigkeit 1991 fürchteten.
Die Ukraine verstehen
Laut russischen Geschichtsbüchern war das mittelalterliche Reich Kiever Rus Vorläufer des späteren Russischen Reichs und ist Kyiv die „Mutter russischer Städte“ und somit identitätsstiftend sowohl für UkrainerInnen wie für RussInnen. Wie jede Sowjetrepublik war die Ukraine dem stalinistischen Terror ausgesetzt. In der großen Hungerkatastrophe 1932/33, dem Holodomor, kamen in der Ukraine bis zu 4 Millionen Menschen ums Leben, nach manchen auch beträchtlich mehr. Diese große Tragödie wird unterschiedlich interpretiert: für Russland war der Holodomor eine Folge von Dürre und Zwangskollektivierung, für die Ukraine steht dahinter eine gezielte Politik der Moskauer Führung gegen den Widerstand ukrainischer Bauern und somit gezielter Völkermord. Zu Sowjetzeiten wurde dieses Massensterben verschwiegen, doch nach 1991 wurde es zum zentralen Thema nationalorientierter ukrainischer Politiker. Das spannungsgeladene Verhältnis hat nicht zuletzt auch Wurzeln in der Politik der Russifizierung, womit der Einflussbereich der russischen Sprache und Kultur zulasten anderer Sprachen und Kulturen ausgeweitet werden sollte. So wurde das Ukrainische, vor allem im Osten des Landes, zunehmend verdrängt, wobei in einigen Gebieten dort Russisch seit jeher vorherrschend gewesen ist.
Bei vielen UkrainerInnen setzt sich zunehmend das Narrativ durch, die Zugehörigkeit der Ukraine zur UdSSR sei als „bolschewistische und kommunistische Okkupation“ zu werten. Für Russland allerdings, das sich als Rechtsnachfolger der Sowjetunion sieht, ist das wiederum ein direkter Affront.
Die Ereignisse nach dem Euromaidan haben diese Wahrnehmung noch verstärkt. Im kollektiven Gedächtnis ist sowjetisch heute negativ konnotiert, russisch sowieso. Mittels „Entkommunisierung“ wurde beispielsweise die Verwendung sowjetischer Symbole verboten, kommunistische Denkmäler wurden entfernt und Orte, Straßen sowie Plätze umbenannt. Es ist ein Versuch der Nationenbildung, der Abgrenzung zum großen „Bruder“, der Kreation einer selbstbestimmten ukrainischen Identität, und die ukrainische Sprache soll Teil dieser Identität sein. Daher wurde 2014 das Gesetz über die Regionalsprachen abgeschafft, wonach in Gebieten mit mindestens 10% Bevölkerung nicht-ukrainischer Muttersprache diese Sprachen einen Regionalstatus hatten. Gemäß dem Bildungsgesetz vom September 2017 muss ab 2020 der gesamte Schulunterricht auf Ukrainisch abgehalten werden, wogegen Rumänien, Ungarn und Russland umgehend protestierten. Wenn man auch die Existenz von rein ungarisch-sprachigen Ortschaften problematisch finden mag, hat dieses Gesetz doch den Beigeschmack der weiteren Ukrainisierung und dient auch der Abgrenzung zum russischsprachigen Ukrainertum. Die meisten UkrainerInnen sind aber zweisprachig und sprechen Ukrainisch sowie Russisch (oder eine Mischung aus beiden). Auch wenn das Ukrainische historisch vernachlässigt wurde und seine Stärkung durchaus sinnvoll sein mag, bleibt die Frage nach der besten Strategie offen. Ein öffentlicher Diskurs darüber hat nicht stattgefunden. Welche Gewichtung die Sprache für das ukrainische Nationalbewusstsein, für die ukrainische Identität in Zukunft haben soll, müssen die Betroffenen am Ende selbst entscheiden. Eine sich vertiefende Spaltung zwischen der Ukraine und Russland, aber auch zwischen Westen und Osten des Landes, ist aber heute leider offensichtlich.
Man kann daher argumentieren, dass das ukrainische politische Projekt teilweise und unverkennbar auf anti-russischen Fundamenten aufgebaut ist. Die Abgrenzung zu Russland macht eine ukrainische Identität erst möglich – ohne das Andere kann das Eigene nicht existieren. Die Ereignisse seit 2014 machen deutlich, dass der geopolitische Zeigefinger Kyivs Richtung Westen und nicht gen Osten gerichtet ist. Auch das ist dem großen Nachbarn Russland nicht entgangen.
Dass der Osten des Landes diese Westorientierung aufgrund seiner sozioökonomischen (vor allem Groß- und Schwerindustrie) aber auch historischen Beziehungen nicht im selben Ausmaß wie der Westen unterstützt, führte nicht zuletzt auch zu Spannungen innerhalb der Ukraine, die im Auftauchen pro-russischer Separatisten seit 2014 ihren bisherigen Höhepunkt fanden. Wie viel lokale Unterstützung diese am Beginn hatten, ist nicht nachweisbar, aber man kann annehmen, dass die meisten der ca. vier Millionen Einwohner der „nicht-regierungskontrollierten“ Gebiete Donetsk und Lugansk weder pro-russisch noch ukrainische NationalistInnen sind, sondern dass sie einfach nur in Frieden leben wollen. Hier findet eine Politisierung auf dem Rücken der Zivilbevölkerung statt, die teilweise ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat. So berichten viele IDPs in Kyiv von Diskriminierungen aufgrund ihrer Herkunft aus dem Osten sowie von Vorurteilen ihre politische Gesinnung betreffend.
Dass Russland die Separatisten finanziell, logistisch, sowie mit (auch schweren) Waffen und mithilfe russischer Söldner oder paramilitärischer Truppen unterstützt, dafür sprechen starke Indizien. Das ist ebenso rechtswidrig wie vergleichbare Aktionen westlicher Staaten zum Sturz „unfreundlicher Regime“. Territoriale Souveränität und das Recht auf Selbstbestimmung sind auch für die Ukraine existenziell. Seit den Ereignissen in Georgien 2008 und der Präsenz russischer Truppen in Südossetien und Abchasien fürchtete man in der Ukraine um seine Souveränität, Befürchtungen, die sich 2014 dann auch bestätigten. Die Ukraine tut sich bis heute schwer, einen Ausweg aus der Krise zu finden.
Russland verstehen
Will man Russlands Rolle im Konflikt in der Ostukraine verstehen, so ist auch hier ein Blick in die jüngere Geschichte sinnvoll.
Seit dem Kollaps der Sowjetunion, mit dem bis heute ein latentes Siegerbewusstsein des Westens, seines ökonomischen Systems und seiner Werte, mitschwingt, wurde die Chance zum Aufbau einer Partnerschaft auf Augenhöhe nicht ausreichend genutzt. Aus Sicht Europas ging das so lange gut, wie Russland aufgrund der Transformation nach dem Kalten Krieg ökonomisch und politisch relativ schwach war. Seit Beginn des Jahrtausends mit leichtem ökonomischen Aufschwung und relativer politischer Stabilisierung während der Amtszeiten von Präsident Wladimir Putin änderte sich das allerdings.
Aus russischer Sicht ist die Ukraine, ungeachtet der Anerkennung ihrer Grenzen und Souveränität, eng mit Russland verflochten, und wird als „kleiner Bruder“ wahrgenommen. Als 2008 eine NATO-Erweiterung für Georgien und die Ukraine angesprochen wurde und 2009 mit dem EU-Programm östlicher Partnerschaften Beziehungen der EU mit diversen ehemaligen Sowjetrepubliken ausgebaut werden sollten, hat Putin offenbar Pläne für den Notfall eines für Russland aus Sicherheitsgründen inakzeptablen ukrainischen NATO-Beitritts entworfen haben, wie Dmitri Trenin, Direktor Carnegie Moskau, meint. Unabhängig davon, ob im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands 1990-91 westlicherseits versprochen wurde, die NATO werde nicht nach Osten erweitert, wird diese dann doch erfolgte Ausdehnung russischerseits als Wortbruch wahrgenommen. Aus dieser Sicht hat die NATO spätestens mit der Auflösung des Warschauer Pakts ihre Existenzberechtigung verloren und vor allem an den Grenzen Russlands nichts zu suchen.
Aus russischer Perspektive ist die Ukraine alles andere als typisches Ausland. Die gemeinsame Geschichte, Millionen familiärer Beziehungen, die russische Sprache aber auch die Bedeutung der Ukraine für das eurasische Integrationsprojekt verdeutlichen die spezielle Beziehung, die Russland zur Ukraine hat. Dass sich die Ukraine, insbesondere der westliche Teil, zunehmend Richtung EU orientierte, gefährdete die geopolitischen Interessen Russlands, welches seinen Druck auf die Regierung in Kyiv erhöhte. Doch schon vor dieser Hinwendung kam es, wie erinnerlich, praktisch jährlich zu erheblichen, die Energieversorgung Europas gefährdenden russisch-ukrainischen Spannungen, um die finanziellen und sonstigen Modalitäten des Energie-Transits durch die Ukraine.
Alles was in den letzten Jahren dann geschah, erklärt sich vorwiegend aus dieser Sonderbeziehung und aus dem Wettbewerb um die geopolitische und –ökonomische Ausrichtung der Ukraine: die zunehmend schwierige Balance, unter Präsident Janukowitsch (2010-2014), zwischen Orientierung Richtung EU und russischem Druck, die Massenproteste auf dem Maidan nach der Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens, die Flucht und Absetzung Janukowitschs, die von Russland als Putsch gesehene Machtübernahme einer pro-westlichen Kyiver Führung, die rechtswidrigen russischen Reaktionen betreffend die Krim und die Unterstützung separatistischer Aufständischen im Osten des Landes, die teilweise brutale „Rückeroberung“ abtrünniger Städte und die Einsetzung der ukrainischen Antiterror-Operation in Donetsk und Lugansk.
Nach Meinung Dimitri Trenins ist die russische Politik deshalb gescheitert, weil viele Russen die für sie unerfreuliche Tatsache nicht anerkennen wollen, dass fast die gesamte ukrainische Elite vom Projekt eines unabhängigen Landes träumte. Das widerspricht der russischen Wahrnehmung, wonach UkrainerInnen und RussInnen im Wesentlichen ein gemeinsames Volk sind. Vielleicht erklärt auch diese doch etwas patriarchale Haltung die Ablehnung eben dieser scheinbaren Ähnlichkeiten und Gleichheiten durch die UkrainerInnen – zumindest teilweise. Während Russland sich auf die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Religion und Kultur, auf das Gemeinsame der ostslawischen Bevölkerungen im Allgemeinen bezieht, benötigt die Ukraine für ihre Nationsbildung eben genau diese Abgrenzung zum größeren und auf der internationalen Bühne weitaus bedeutenderen Russland.
Die Vermutung liegt nahe, Moskau wolle und werde über das Donbassgebiet kurz oder lang Einfluss auf Kyiv nehmen können. Die Bewohner dieses Gebiets hegen jedenfalls wachsenden Unmut gegenüber Kyiv, das sie nötigt, Pensionen und andere Sozialleistungen jenseits der Kontaktlinie - auf regierungskontrolliertem Gebiet - abzuholen. Weiters könnte man meinen, gepaart mit russischer Propaganda sei der Status Quo aus russischer Sicht nicht die schlechteste Option- obwohl unumstritten sehr kostspielig (inklusive der Folgen der vom Westen ergriffenen Sanktionen).
International versucht sich Russland als Großmacht im Eurasischen Raum, die zumindest annähernd gleichberechtigt neben der EU und den USA auf der einen Seite, sowie China auf der anderen Seite steht, zu positionieren. Den Eintritt in den Krieg in Syrien, die Unterstützung Assads, war ein für alle sichtbares Zeichen der Rückkehr Russlands auf die internationale Weltbühne. Man soll akzeptieren: ohne Russland geht es nicht. Ohne Russland gibt es im Nahen Osten keine Lösung, ohne Russland gibt es in der Ukraine keine Lösung. Präsident Putin und seine Regierung sind heute so bedeutend wie nie zuvor.
Aktuelle Entwicklungen: Ein Ausweg aus der Krise?
Momentan hat es den Anschein, dass weder die ukrainische noch die russische Führung an der Beilegung des Konflikts interessiert sind. Die Beziehungen sind von gegenseitigem Anschwärzen geprägt. Konstruktive Schritte, wie beispielsweise der Einsatz von UN-Blauhelmen, scheitern an inkompatiblen Mandatsvorstellungen. Kyiv besteht darauf, dass diese das gesamte Gebiet – bis zur Grenze Russlands – betreuen sollten, während Moskau vorschlägt, diese nur entlang der Kontaktlinie zum Schutz der OSZE -Beobachtermission einzusetzen. Selbstverständlich kann Kyiv diese Option nicht akzeptieren, der politische Wille Russlands ist hier bisher nicht vorhanden und dank seiner Position im UN-Sicherheitsrat sitzt es wohl am längeren Hebel.
Angesichts fehlender, ernsthafter Verhandlungen hat sich die Rhetorik der ukrainischen Führung gegenüber Russland bedeutend verschärft. Zuletzt alarmierte sie die Welt über einen angeblich aggressiven Aufmarsch russischer Marine-Verbände im Asowsches Meer. Doch der Krieg im Osten lenkt auch von innenpolitischen Problemen ab: ausufernde Korruption und enormer Einfluss von Oligarchen, schwaches wirtschaftliches Wachstum, seit der Unabhängigkeit sinkende Lebenserwartung, Geburtenrate und Einwohnerzahl. Dazu kommt das Auftreten rechter Ultranationalisten, die immer wieder liberale Kunst- und Kulturveranstaltungen stören und dafür meistens straffrei davonkommen. Die territoriale Souveränität der gesamten Ukraine wird propagandistisch hoch vermarktet, aber das Wohlergehen der Bevölkerung scheint nicht von großer Bedeutung zu sein, ganz zu schweigen vom Schicksal der über 4 Millionen im Donbass verbliebenen UkrainerInnen. Für sie gibt es keine Pläne.
Die ukrainische Führung setzt nicht auf Verhandlungen, sondern agiert teilweise provokativ und greift zunehmend zu gewaltsamen Mitteln. Im neuen Gesetz „Über die Schwerpunkte der staatlichen Politik zur Gewährleistung der staatlichen Souveränität der Ukraine in den temporär besetzten Territorien der Gebiete Donezk und Luhansk” vom 20. Februar 2018 wird Russland offiziell als „Aggressor“ betitelt. Neben der bisherigen „Antiterror-Operation“ unter der Kontrolle Inlandsgeheimdienstes SBU sollen nun unter der Kontrolle des Generalstabs „Maßnahmen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit und Verteidigung, Abwehr und Abschreckung gegen die militärische Aggression der Russischen Föderation in den Gebieten Donezk und Luhansk“ ergriffen werden. Von den Minsker Abkommen, die bisher die einzigen Dokumente zu einer Konfliktbeilegung darstellen, ist keine Rede. Der Konflikt militarisiert sich somit zunehmend, politisch- diplomatische Lösungswege werden offensichtlich nicht angestrebt. Wenngleich dieses Gesetz unter gewissen Umständen die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen mit den abtrünnigen Gebieten ermöglicht, wird sich an der besonders tristen Lebenssituation der Bevölkerung in diesen Landesteilen vorerst nichts ändern.
Außenpolitisch setzt die Regierung Präsident Poroschenkos auf die solidarische Unterstützung des Westens inklusive der USA und forciert dazu das Narrativ, die Ukraine führe einen Selbstverteidigungskrieg für die gesamte europäische (westliche) Welt. Naturgemäß plädiert Kyiv für das Weiterbestehen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die seit der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Konflikts im Osten in Kraft sind und immer wieder verlängert werden. Solidarität wird auch auf wirtschaftlicher Ebene, namentlich in Bezug auf das Projekt North Stream II, gefordert. Dessen Bau würde die ukrainischen Pipelines umgehen, zu hohen Transitgebührenverlusten führen und somit das Land wirtschaftlich angeblich destabilisieren.
Nach vier Jahren Konflikt, 10. 000 Todesopfern, vier Millionen Menschen, die in den nicht-regierungskontrollierten Gebieten leben und von denen 30-40.000 jeden Tag die Frontlinie überqueren, um ihre Pension oder andere Sozialleistungen zu erhalten, hat sich nicht viel Richtung stabiler Frieden in der Ukraine verändert. Auf russische Propaganda, es handle sich bei der Ukraine um einen faschistischen Staat, folgt ukrainische Propaganda, nachdem jeder Versuch einer Konfliktlösungsstrategie, der von der öffentlichen politischen Linie abweicht, als pro-russisch interpretiert wird.
Einen skurrilen Höhepunkt in den kläglichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland stellte zuletzt der vom SBU vorgetäuschte Mord in Kyiv an dem russischen, kremlkritischen Journalisten Arkadij Babtschenko dar, der angeblich im Auftrag russischer Autoritäten geplant gewesen sei. Solche Aktionen steigern die ohnehin niedrige Glaubwürdigkeit ukrainischer Autoritäten bei den UkrainerInnen und anderswo höchstwahrscheinlich nicht. Auch die Verhaftung des Direktors des ukrainischen Ablegers der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti, Kirill Wyschinskij, wegen angeblichen Landesverrats erscheint bedenklich. Die EU und ihre Partner haben sich zu diesem Fall übrigens erstaunlich still gezeigt.
Am ersten Juni 2018 berichtet die Zeit davon, Vertreter Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands wollten wieder über den Abzug schwerer Waffen aus der Ostukraine und eine UN-Mission verhandeln. Diplomatische Verhandlungen sind der einzige vernünftige Weg aus dieser Krise. Ein Dialog ist keine Ideologie, sondern ein effektives Instrument für gegenseitiges Verständnis, das für eine nachhaltige und umfassende Konfliktlösung unabdingbar ist. Denn: Immer ist Anfang[2].
Stephanie Fenkart
ist Direktorin am International Institute for Peace (IIP) in Wien. Sie hat Human Rights an der Donauuniversität Krems sowie Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert. Ihre inhaltlichen Schwerpunkt sind friedliche Konflikttransformation, Transitional Justice und Menschenrechte.
Literatur:
Shkundin, Mark (2004): Resume on Leonid Kuchma (2003) Ukraine: Different from Russia, in: Russia in Global Affairs, https://eng.globalaffairs.ru/book/n_2915
Dmitri Trenin (2017) To Understand Ukraine, In: Russia in Global Affairs, No 4,
http://eng.globalaffairs.ru/number/To-Understand-Ukraine-19268
Tadeusz Olszański (2012) The Language Issue in Ukraine. An Attempt to a New Perspective, in: OSW Studies 40. Warsaw, http://aei.pitt.edu/58393/1/prace_40_en_0.pdf
Julian Mertens 2010 in: Deutsche Welle, Ukraine: Eier und Nebelbomben im Parlament, 27.04.2010, http://www.dw.com/de/ukraine-eier-und-nebelbomben-im-parlament/a-5512220
Tim Peters, Vasyl Mykhailyshyn (2018) Neues Donbas-Gesetz in Kraft, Anpassung an die Konfliktrealitäten, in: KAS Länderbericht Ukraine, http://www.kas.de/wf/doc/kas_51629-1522-1-30.pdf?180226153250
Die Zeit, Tageszeitung
OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine, https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine , https://www.osce.org/ukraine-smm/reports
UNICEF, Press Release, Dezember 2017, https://www.unicef.org/media/media_102350.html
UNHCR, Ukraine Situation, Operational Update, Dez 2017 https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2017%2012%20UNHCR%20UKRAINE%20Operational%20Update%20FINAL%20EN.pdf
[1] Sowie diverser anderer internationaler und multilateraler Vereinbarungen wie der Treaty between the Ukrainian SSR and the Russian SFSR (November 19, 1990), Treaty on Friendship, Cooperation, and Partnership between Ukraine and the Russian Federation (May 31, 1997), Treaty between the Russian Federation and Ukraine on the Russian-Ukrainian State Border (January 28, 2003).
[2] Franz Theodor Csokor, PEN-Club Präsident 1947-1969
Mag. Stephanie Fenkart MA is Director of the International Institute for Peace (IIP) since 2016. She has an MA in Development Studies from the University of Vienna and an MA in Human Rights from the Danube University, Krems. She is furthermore a member of the Advisory Committee for Strategy and Security Policy of the Scientific Commission at the Austrian Armed Forces (BMLV). She is also a board member of the NGO Committee for Peace, Vienna.